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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger
Autoren: Charlo von der Birke
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habe sie gerade seinen Arm losgelassen,
    damit sie nicht zusammen unter der grellen
    Helligkeit der Lampenglocken an der Tür
    vorbeigingen.
    Als Gervaise gegen fünf Uhr, steif geworden
    und mit zerschlagenem Kreuz, erwachte, brach
    sie in Schluchzen aus. Lantier war nicht
    heimgekommen. Zum erstenmal schlief er
    nicht zu Hause. Sie blieb auf dem Bettrand
    unter dem verschossenen bemalten
    Leinwandfetzen sitzen, der von der mit einer
    Schnur an der Decke befestigten Stange
    herabfiel. Und langsam blickte sie sich mit
    ihren tränenumflorten Augen in dem elenden
    möblierten Zimmer um, das mit einer
    Nußbaumkommode, in der eine Schublade
    fehlte, drei Strohgeflechtstühlen und einem
    kleinen, schmierigen Tisch, auf dem ein
    angestoßener Wasserkrug herumstand,
    ausgestattet war. Für die Kinder hatte man ein
    eisernes Bett hineingestellt, das die Kommode
    versperrte und zwei Drittel des Raumes
    einnahm. Gervaises und Lantiers Koffer, der
    weit geöffnet in einer Ecke stand, zeigte seine
    leeren Flanken und ganz hinten einen alten
    Männerhut, der unter schmutzigen Hemden
    und Socken vergraben war, während auf den
    Lehnen der Möbel längs der Wände ein
    zerlöcherter Schal und eine vom Dreck
    zerfressene Hose hingen, der letzte Plunder,
    den die Kleiderhändler nicht haben wollten.
    Mitten auf dem Kamin lag zwischen zwei
    nicht zusammenpassenden Zinkleuchtern ein
    Bündel zartrosa Pfandscheine. Es war das
    feine Zimmer des Hotels, das Zimmer im
    ersten Stock, das auf den Boulevard
    hinausging.
    Die beiden Kinder indessen schliefen, Seite an
    Seite auf demselben Kopfkissen liegend.
    Claude, der acht Jahre alt war, hatte seine
    Händchen nach oben aus der Decke
    herausgestreckt und atmete mit langsamen
    Zügen, während der erst vier Jahre alte Etienne
    lächelte und einen Arm um den Hals seines
    Bruders geschlungen hatte. Als ihre Mutter
    ihren in Tränen schwimmenden Blick auf
    ihnen ruhen ließ, überkam sie ein neuer
    Weinkrampf, sie preßte ein Taschentuch auf
    ihren Mund, um die leichten Schreie zu
    ersticken, die ihr entfuhren. Und ohne daran zu
    denken, ihre heruntergefallenen Pantoffeln
    wieder anzuziehen, kehrte sie barfuß zum
    Fenster zurück, wo sie, auf die Ellbogen
    gestützt, wie in der Nacht ihr Warten
    wiederaufnahm und in der Ferne die
    Bürgersteige musterte. Das Hotel lag am
    Boulevard de la Chapelle, links von der
    Barrière Poissonnière. Es war ein
    zweistöckiges baufälliges Gebäude, das bis
    zum zweiten Stock dunkelrot angestrichen war
    und vom Regen verfaulte Fensterläden hatte.
    Oberhalb einer Laterne mit sternförmig
    gesprungenen Scheiben gelang es einem,
    zwischen den beiden Fenstern in großen
    gelben Buchstaben, von deren Gips der
    Schimmel Stücke vertilgt hatte, »Hotel
    Boncœur, Besitzer Marsoullier« zu lesen.
    Gervaise, der die Laterne im Wege war, reckte
    sich in die Höhe, sie preßte ihr Taschentuch
    noch immer auf die Lippen. Sie schaute nach
    rechts in Richtung des Boulevard de
    Rochechouart, wo Gruppen von Fleischern mit
    blutigen Schürzen vor den Schlachthäusern
    standen; und der frische Wind trug zuweilen
    Gestank herüber, einen wilden Geruch nach
    hingemetzelten Tieren. Sie schaute nach links,
    überflog dabei das lange Band einer breiten
    Straße und verweilte fast gegenüber von ihr
    auf der weißen Masse des damals im Bau
    befindlichen Hospitals Lariboisière3. Langsam
    folgte sie von einem Ende des Horizonts zum
    anderen der Stadtzollmauer, hinter der sie
    nachts manchmal Schreie von Ermordeten
    hörte. Und sie durchwühlte die entlegenen
    Winkel, die finsteren, vor Feuchtigkeit und
    Schmutz schwarzen Ecken voller Angst,
    Lantiers Leiche, den Bauch von Messerstichen
    durchbohrt, dort zu entdecken. Als sie über
    dieses graue und endlose Gemäuer
    hinwegblickte, das die Stadt mit einer öden
    Einfassung umgab, gewahrte sie einen weiten
    Lichtschein, einen Sonnenstaub, der schon von
    dem morgendlichen Grollen von Paris erfüllt
    war. Aber immer wieder schweifte sie mit
    vorgestrecktem Hals zur Barrière Poissonnière
    zurück und betäubte sich damit, die
    ununterbrochene Woge von Menschen, Tieren
    und Karren, die von den Anhöhen des
    Montmartre und von La Chapelle herabwallte,
    zwischen den beiden gedrungenen
    Zollhäuschen hindurchfließen zu sehen. Dort
    war ein Herdengetrampel, eine Menge, die
    durch jähe Stockungen in Lachen auf dem
    Fahrdamm ausgebreitet wurde, ein endloser
    Vorbeimarsch von Arbeitern, die mit ihrem
    Handwerkszeug auf dem Rücken und
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