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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger
Autoren: Charlo von der Birke
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Vorstädte und
    nicht eine mit Rosenwasser parfümierte
    Sprache sprechen zu lassen.
    Zola selbst aber führte wissenschaftliche
    Argumente für seinen Versuch ins Feld. Wenn
    es den Philologen erlaubt war, in diesem
    Großstadtargot herumzuspüren, wenn es sogar
    eigene Wörterbücher dieser Sprache gab, wer
    wollte dem Schriftsteller dann das Recht
    streitig machen, die literarische Neugier zu
    haben, »die Sprache des Volkes zu sammeln
    und in eine gut ausgearbeitete Form zu
    gießen«? Auch hier habe niemand erkannt, daß
    es sein »Wille war, eine rein philologische
    Arbeit zu leisten«, von der er glaubte, »daß sie
    von lebhaftem historischem und sozialem
    Interesse ist«. Und in einem Brief an Albert
    Millaud vom 3.9.1876 bezeichnet er den Stil
    des »Totschlägers« geradezu als »eine
    philologische Studie«. Die Philologen als
    Kronzeugen aufzurufen war ein etwas
    gewagtes Spiel, denn philologisch unter die
    Lupe genommen, ergaben sich im Wortschatz
    dieses Romans doch einige ganz beachtliche
    Anachronismen, erschien so mancher
    Ausdruck nicht mehr »kernig« und
    »waschecht«, sondern recht papieren und allzu
    »philologisch«. Im Grunde aber waren diese
    Ausstellungen genauso kleinlich, wie Zolas
    philologisches Versteckspiel unnötig war. Man
    hatte sich vor allem an dem Titelwort
    »Totschläger« (assommoir) gestoßen, weil in
    den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
    eine Kneipe mit »bistro« bezeichnet wurde,
    »assommoir« dagegen schon seit ungefähr
    dreißig Jahren veraltet war. Ursprünglich hatte
    »assommoir« von »assommer« (erschlagen)
    um 1700 abgeleitet, einen Schlagstock
    bezeichnet, mit dem man jemanden »zu Tode
    bringen« konnte. Um diese symbolisch
    eingesetzte Doppelbedeutung ging es aber
    Zola. Für die Kritik jedoch schien er in
    laienhafter Unkenntnis auf seine
    Gewährsmänner hereingefallen zu sein. Denn
    es war natürlich bekannt, daß er sich in seiner
    üblichen Gewissenhaftigkeit nicht mit dem aus
    dem eigenen Erleben geschöpften Wissen und
    eigenen Kenntnissen zufriedengegeben,
    sondern einige Spezialwerke konsultiert hatte:
    einen Sammelband reportageartiger Berichte
    über das Pariser Arbeiterleben von Denis
    Poulot aus dem Jahre 1870 und das 1866
    erschienene Argotwörterbuch von Delvau. Aus
    beiden hatte er Auszüge gemacht und nach
    Sachgebieten zusammengestellte Wortlisten
    angelegt, die er bei der Abfassung der
    einzelnen Kapitel nochmals durchging und auf
    denen er die verwendeten Wörter dann
    abstrich. So stammen z.B. auch die
    Spitznamen von Coupeau, von Coupeaus
    Freunden und von Goujet aus Poulots Buch.
    Und es war auch durchaus möglich, daß der
    eine oder der andere Ausdruck nicht mehr
    aktuell war. Das heißt, wann aktuell? Als Zola
    den Roman schrieb (1875/76), als er ihn
    beginnen ließ (1850) oder zum Zeitpunkt
    seines Endes (1865)? Da lag die wirkliche
    Schwierigkeit, denn der typische Wortschatz
    des Großstadtargots wandelt sich ungemein
    rasch. Die Differenz zwischen dem Beginn der
    Romanhandlung und der Abfassungszeit
    betrug jedoch mehr als eine Generation, und
    selbst innerhalb des Zeitraums von fünfzehn
    Jahren, in dem der Roman spielt, hätten dann
    die Veränderungen festgehalten werden
    müssen. So ist es nicht verwunderlich, daß
    sich manches den Bewohnern der Vorstädte
    abgelauschte Kraftwort mit einem längst
    verdorrten Relikt aus Delvau oder Poulot
    zusammenfand. Wenn man z.B. bedenkt, daß
    die heutige Berliner Jugend das mit »schau«
    bezeichnet, wofür ihre Eltern »knorke« und
    ihre Großeltern »schnafte« und »schnieke«
    sagten, so kann man ungefähr ermessen,
    welche Schwierigkeiten Zola für die Sprache
    des »Totschlägers« entstanden und vor welche
    ebenfalls fast unlösbaren Schwierigkeiten sich
    auch der Übersetzer gestellt sieht. Denn Zola
    hat, ungeachtet aller Anachronismen und
    möglichen Schiefheiten, Pariser Argot
    verwendet, also die spezielle Sprache des
    Volkes der französischen Hauptstadt. Soll man
    dies mit Berliner Dialekt wiedergeben, dem
    Dialekt unserer Tage oder dem der sechziger
    und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts,
    oder soll man vielleicht, doch eine mehr
    allgemein gehaltene und folglich auch
    zeitlosere dialektale Form wählen? Wir haben
    versucht, letzteren Weg zu gehen, und waren
    uns dabei der Tatsache wohl bewußt, daß wir
    damit in einem gewissen Sinne verbiegen, im
    anderen aber vielleicht doch der Absicht des
    Autors und auch der Wirkungsmöglichkeit des
    Buches
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