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Der Todschlaeger

Der Todschlaeger

Titel: Der Todschlaeger
Autoren: Charlo von der Birke
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ein unglücklicher Zufall, der
    jedem Dachdecker zustoßen konnte. Um
    Coupeaus nachfolgendes Schicksal aber als
    sozial bedingtes notwendiges Ergebnis dieses
    unglücklichen Zufalls erscheinen zu lassen,
    hätte Zola seine beruflichen und nicht nur
    persönlichen Folgen zeigen müssen.
    Zola hat – wenn man das Buch als Ganzes
    betrachtet und nicht nur die Hauptgestalten
    sieht – die soziale Unsicherheit des Arbeiters
    nicht verschwiegen. Es gibt weder Kranken
    noch Sozialversicherung, ärztliche Behandlung
    zu Hause muß vom Kranken selbst bezahlt
    werden, es gibt keinen Ausgleich für
    Lohnausfall. So ist der Arbeiter entweder
    darauf angewiesen, ins Hospital zu gehen,
    oder, falls er einige Ersparnisse hat wie
    Gervaise und Coupeau, gezwungen, dieses
    mühselig zurückgelegte Geld, die Hoffnung
    auf einen Notgroschen im Alter, aufzuzehren
    und dann wiederum von vorn zu beginnen,
    sofern er überhaupt noch arbeiten und
    verdienen kann.
    Aber die handlungsmäßige Darstellung dieser
    sozialhistorisch relevanten Seite seines
    Dramas, die Coupeaus und Gervaises
    Schicksal eine objektive gesellschaftliche
    Tragik verliehen hätte, läßt sich Zola entgehen.
    Statt dessen wird in Zolas Roman die rein
    persönliche, charakterliche Reaktion Coupeaus
    auf dieses von ihm als eine Härte und
    Ungerechtigkeit des Schicksals empfundene
    Unglück zum Hebelpunkt der weiteren
    Entwicklung gemacht: »Der war nicht gerecht,
    sein Unfall; das hätte ihm nicht passieren
    dürfen, ihm, einem guten Arbeiter, der kein
    Faulpelz, kein Säufer war. Bei anderen hätte er
    es vielleicht verstanden. – ›Papa Coupeau‹,
    sagte er, ›hat sich an einem Sauftage den Hals
    gebrochen ... Ich dagegen war nüchtern ...‹«
    Und aus dieser Überlegung scheint sich für
    Coupeau der Schluß zu ergeben, daß es nichts
    nützt, vernünftig zu sein und nicht zu trinken,
    wenn einen trotzdem das Unglück treffen
    kann. So läßt Zola in ihm eine dumpfe Wut
    gegen die Arbeit, gegen seinen Beruf
    entstehen, die der Anfang seines Faulenzens,
    seiner Kneiptouren und damit seines
    endgültigen Absinkens ist.
    Um nun Gervaises Verfall als eine notwendige
    Folge dieses Verkommens ihres Mannes
    erscheinen zu lassen, griff Zola wiederum zur
    psychologischen Motivierung. Gervaise ist
    kein starker Charakter. Sie vergleicht sich
    selbst mit einem Geldstück, das hochgeworfen
    wird und zufällig auf diese oder jene Seite
    fällt. Sie war zu nachgiebig« einzig bestrebt,
    sich und ihrer Umgebung jeden Ärger, jede
    Aufregung, jeden Kummer zu ersparen, in
    diesem Jammerdasein wenigstens ein kleines
    Stückchen Glück und Frieden zu erhaschen,
    und sei es auch nur ein Scheinglück, ein
    Scheinfrieden. So schließt sie die Augen vor
    Coupeaus Saufereien, seinem Herumbummeln,
    seiner Geldverschwendung. Und da sie
    obendrein ebenso wie Coupeau erblich belastet
    ist, scheint es kein Wunder, daß – durch all
    diese Umstände nach und nach begünstigt –
    zunächst bei Coupeau und gegen Ende der
    Katastrophe auch bei Gervaise die alte
    Veranlagung zur Trunksucht durchbricht und
    beide zu willenlosen Spielbällen dieses Lasters
    werden. »Und jetzt fing sie wieder mit dem
    Likör an. Oh, sie kannte sich, sie hatte für
    keine zwei Heller Willenskraft. Man hätte ihr
    nur einen Schubs ins Kreuz zu geben
    brauchen, damit sie sich Hals über Kopf in den
    Suff stürzte.« Damit aber hatte Zola für alle
    ineinandergreifenden, entscheidenden Etappen
    des Verfalls dieser Arbeiterfamilie
    persönliche, charakterliche Motivierungen
    gefunden, nachdem er einen Zufall zum
    Drehpunkt der Geschichte gemacht hatte.
    So konnte der Eindruck entstehen, als
    genügten persönlicher Fleiß, Sparsamkeit und
    Bescheidenheit, um dem Arbeiter ein
    auskömmliches Dasein zu sichern, d.h. sein
    Wohlstand oder sein Elend hinge in erster
    Linie von seinem persönlichen Verhalten ab.
    Mit dieser seitens des Lesers abhebbaren
    Aussage bewegte sich aber die
    Romanhandlung auf dem Niveau der sozialen
    Klischeevorstellungen der Zeit.
    Solange der Hexentrank des Vaters Colombe
    aus dem »Totschläger« noch nicht Coupeaus
    Sinn benebelt, solange Gervaise umsichtig und
    zielstrebig arbeitet, unnötige Ausgaben
    vermeidet, nicht genäschig ist und ihre Zeit
    nicht verbummelt, so lange geht alles gut. Und
    die Goujets mit ihrer beinahe an Stolz
    grenzenden Sparsamkeit und Ordnung, die
    selbst bei sinkenden Löhnen die wachsende
    ökonomische Verelendung durch erhöhte
    Einschränkung auszugleichen
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