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Der Todesbote

Der Todesbote

Titel: Der Todesbote
Autoren: Jaques Buval
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Soll ich es holen?«
    »Was, das haben wir noch im Hause?«, fragt sie verwundert und ersucht ihren Mann: »Ja, bitte hole es doch einmal. Ich möchte es dem Besucher zeigen.«
    In seinen alten Hausschuhen schlurft er zu einem kleinen Kleiderschrank im Schlafzimmer. Behäbig kommt er wieder in das Wohnzimmer zurück. In seinen Händen hält er ein Holzstück.
    »Sehen Sie, auf der Rückseite hat er eine Widmung für uns geschrieben«, erzählt er mit verstohlenem Stolz und zeigt sie seinem Besuch. Nelli Furmanski, seine Frau, rückt näher an den Tisch und setzt ihre Brille auf. Deutlich ist das spanische Wappen auf dem Holzbrett zu erkennen. Auf der Rückseite ist handschriftlich zu lesen:

    Für die Familie Furmanski Zur Erinnerung von Ihrem Schüler Anantolij Onoprienko Spanien 1984.

    Wutentbrannt springt die alte Frau auf und fordert von ihrem Mann: »Los, wirf das Gerumpel in das Feuer im Ofen. Ich will nicht mehr an diesen Menschen erinnert werden. Und erst recht möchte ich keine Geschenke von ihm im Hause haben.«
    Folgsam holt der Mann eine alte Zeitung, zerknüllt sie und steckt sie in den Ofen. Dann legt er ein paar Scheite Holz auf das Papier und zündet es an. Nachdem das Holz zu brennen beginnt, wirft er das Geschenk in die Flammen.
    Seine Frau geht zum Ofen. Sie blickt in das lodernde Feuer.
    Sie denkt lange nach, bevor sie weitererzählt: »Ich habe einmal seine Oma gefragt, warum sie den Jungen ins Kinderheim gebracht hat, wo er doch einen Bruder und einen Vater hat, der schon Geld verdient. Natürlich habe ich alleine mit ihr gesprochen. Bei diesem Gespräch war Anatolij nicht anwesend.
    Ich hatte Anatolij in der Zwischenzeit in das Klassenzimmer geschickt, damit ich mit seiner Oma unter vier Augen sprechen konnte. Aber sie konnte mir nichts Positives über ihren Schwiegersohn erzählen. Die Oma hatte kein gutes Verhältnis zu Anatolijs Vater. Auf meine Frage reagierte sie damals sehr ängstlich und aufgeregt. Sie stieß hervor: ›Er ist ein Bandit, ein Krimineller. Er hat versucht, mich zu erwürgen, und hat mich mit einer Axt bedroht. Dieser Bandit hat mich fast ins Grab gebracht.‹«
    Für die spätere Entwicklung des stillen Anatolij hat Nelli Furmanski eine einfache Erklärung: »Ich denke, es liegt vielleicht an seinen Genen. Ich glaube sogar ganz fest daran, dass es tatsächlich so war. Anatolijs Vater war doch vorbestraft. Er saß dreimal im Knast, einmal über fünf Jahre lang.«
    15 Kilometer vom Kinderheim entfernt befindet sich die Realschule der Gegend. Lediglich zwei Jahre verbringt Anatolij dort. Als 16-Jähriger muss er die Schule verlassen.
    Der Grund sind seine mangelnden Leistungen. Zudem glänzte Anatolij mehr durch Ab- als durch Anwesenheit. In seiner Klasse befanden sich auch vier Mädchen, sehr zur Freude Anatolij Onoprienkos.
    Seine Lehrerin Sinaida Sokolowa – sie ist heute ebenfalls in Pension – erinnert sich nur ungern an den unangenehmen Schüler von einst: »Er war ziemlich faul. Ob er sich geprügelt hat, daran kann ich mich nicht erinnern. Aber er lernte nicht besonders gut, und später fing er immer öfter an, den Unterricht zu versäumen. Vielleicht hatte er sich damals schon einer Bande angeschlossen. Er hatte auf einmal acht Sechsen im Zeugnis. Man wollte ihn damals von der Schule weisen.
    Doch immer wieder gab man ihm eine Chance. Aber er nutzte sie nicht. Seine Leistungen wurden so schlecht, dass wir ihn nicht länger an der Schule behalten konnten.«
    Auch Onoprienko hat die Zeit in der Realschule niemals vergessen, vor allem nicht die Physikstunden und seine Lehrerin Ewgenija Seitschenko. Mehrfach bekam er von ihr schlechte Noten. Rügen vor der gesamten Klasse wegen seiner mangelhaften Leistungen und seinem Desinteresse am Unterricht waren an der Tagesordnung. Der 16-jährige Schüler Anatolij schämte sich vor allem vor den anwesenden Mädchen, wenn die Lehrerin wieder einmal die Geduld mit ihm verlor.
    Ein ehemaliger Mitschüler erinnert sich noch genau:
    »Anatolij war nie mein Freund. Er konnte manchmal sehr böse werden, wenn ihm etwas nicht gefiel. Sehr nett dagegen war er zu den Mädchen unserer Klasse. Manchmal trug er ihnen sogar die Schultaschen. Welchem Mädchen gefällt das nicht? Es war nichts Ungewöhnliches, dass man ihn mit den Mädchen am Nachmittag im Park traf. Wenn man ihn zusammen mit den Mädchen sah, lachte er nur, als wolle er sagen, seht her, was ich für Chancen bei den Mädchen habe. Andererseits kam es auch vor, dass er
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