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Der Tod wohnt nebenan Kriminalroman

Titel: Der Tod wohnt nebenan Kriminalroman
Autoren: Francisco Gonz lez Ledesma
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geraden Linie an der Frau.
    Mabel hat eine sehr feine Haut im Gesicht und am Dekolleté – dachte Ruth –, die Zungen und Gebisse der Freier haben dort keinerlei Spuren hinterlassen. Die Beine sind etwas dick geworden, und man könnte sagen, sie hat ein wenig Zellulitis an den Schenkeln, aber das ist eben das Alter, dachte die ehemalige Puffmutter weiter. Mabel ist schon fünfzig, aber sie hat sich gut gehalten, das muss man schon sagen, und jeder weiß, dass in dem Alter viele Mädchen noch arbeiten und ordentlich Kohle verdienen.
    Und so hat ihre Figur – vor allem im warmen Nachmittagslicht – nichts Bedrohliches, im Gegenteil. Aber ihre Augen, dachte Ruth, diese eiskalten grauen Augen, in denen sich der Hass aller unterdrückten Frauen aufgestaut zu haben scheint. Das kennt man, dachte Ruth weiter, vor allem bei Mabel. Einige Freier, die diesen metallischen Blick nicht ertragen konnten, baten sie, die Augen zu schließen, während sie sie nahmen.
    Und Mabels Stimme, die so metallisch war wie ihre Augen.
    »Was hat der Arzt gesagt?«
    »Ich soll mit der Behandlung fortfahren. Und ich bin es leid, ihm zu sagen, nein, lass uns Schluss machen. Ein Arzt mit seiner Erfahrung sollte doch wissen, wie man das anstellt.«
    Mabel ging kurz zum Fenster hinüber. Die einfallenden Sonnenstrahlen schienen zu gefrieren, sobald sie auf ihre Augen trafen.
    »Und du stehst auf seiner Seite«, sagte Ruth anklagend. »Du willst auch, dass all das dauert und dauert …«
    »Jetzt beklag dich nicht«, flüsterte Mabel, und es hörte sich an, als bestünde ihre ganze Gestalt aus Metall. »Du hast alles, was du brauchst. Viele Frauen in deinem Alter sterben gerade in einem Zwei- oder Dreibettzimmer in einem Altenheim. Kurz vor dem Ende wird eine spanische Wand aufgestellt, damit die Nachbarin es nicht mit der Angst bekommt. Du lebst weiterhin wie eine Dame, noch dazu mit der Hoffnung auf Heilung. Sie testen neue Medikamente.«
    »Die testen sie auch an Laborratten.«
    »Ja, aber bevor sie sie dir verabreichen.«
    »Wenn die Ratten tot sind.«
    »Red, was du willst, Ruth, aber bitte mich nicht, dir zu helfen. Ich werde nichts tun und dein Arzt auch nicht. Er ist einer von diesen Erzkatholiken, die niemals Sterbehilfe praktizieren würden. Das solltest du nach all den Jahren wissen.«
    »Ich weiß nur, dass ich unnötig leide. Weißt du, wie schrecklich heiß es in diesem Zimmer ist? Warum lässt du nicht die Rollläden herunter, damit die Sonne nicht hereinkommt?«
    »Das geht nicht. Der Gurt ist kaputt, Ruth.«
    »Es war doch Zeit genug, das reparieren zu lassen.«
    »Der Handwerker ist schon verständigt. Nur, heutzutage kannst du einen Handwerker anrufen, aber deshalb kommt er noch lange nicht.«
    »Du könntest wenigstens die Vorhänge schließen.«
    »Das machst du doch schon selbst, Ruth.«
    »Und du ziehst sie wieder auf, Mabel! Das ist die reinste Folter, eine endlose Geschichte. Ich ziehe sie zu, und du ziehst sie wieder auf. Mit dem Unterschied, dass ich kaum noch aus dem Sessel hochkomme.«
    »Quatsch. Ich mache das zu deinem Besten. Der Arzt hat gesagt, du sollst dich bewegen. Erinnerst du dich nicht? Am vorletzten Sonntag, als du dich besser fühltest, hat er sogar gesagt, du solltest hinausgehen und die Messe besuchen.«
    »Die Messe …«
    Ruths Stimme war nur noch ein despektierliches Raunen. Die Messe … Das fehlte noch, Gott um Erbarmen bitten, eine Frau, die will, dass man sie tötet. Das fehlte ihr noch, nachdem sie in ihren Betten viele Glückselige aufgenommen hatte, deren Mann gestorben war. Das fehlte noch … Da fiel ihr plötzlich ein, dass Mabel mit fünfzehn bei der Gemeinde geholfen hat, und das für ein paar Segnungen und ein Stück Brot. Als der Marqués auf ihr lag, gab er ihr Brot, aber die Segnungen vergaß er. Ruth erinnert sich noch genau an diesen ersten Nachmittag, da hatte auch die Sonne geschienen. Ja, die Sonne.
    Mabel war noch so kindlich, dass sie weiße Kniestrümpfe trug.
    Und dann verliebte sich der Marqués in sie … Mabel, Mabel, Mabel. Er wollte sie immer mit Zöpfen, mit Kinderkleidern, mit weißen Strümpfen.
    Aber die Zeit ist uns davongeflogen, kleine Mabel. Jetzt bist du kein Kind mehr, du trägst keine Zöpfe mehr, und die Leute würden lachen, wenn du weiße Kniestrümpfe anziehen würdest. Auch die Freier würden lachen, alle, bis auf den Marqués, wollten sie dich fraulicher, mit Schlafzimmerblick und schwarzen Strümpfen. Denn ich habe dir Arbeit gegeben, viel Arbeit, da du
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