Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tod wartet

Der Tod wartet

Titel: Der Tod wartet
Autoren: Agatha Christie
Vom Netzwerk:
wir den Spaziergang machten.»
    «Dennoch nahmen Sie das Gift und die Spritze bereits am Vormittag an sich – bevor Sie es erfuhren?»
    «Warum, zum Teufel, quälen Sie mich mit Ihren Fragen?» Er hielt inne und fuhr sich mit zitternder Hand über die Stirn. «Kommt es denn darauf noch an?»
    «Darauf kommt es sehr wohl an. Ich gebe Ihnen den guten Rat, Mr Boynton, mir die Wahrheit zu sagen.»
    «Die Wahrheit?» Lennox stierte ihn an.
    «Das sagte ich – die Wahrheit.»
    «Bei Gott, Sie sollen sie hören», sagte Lennox unvermittelt. «Aber ich weiß nicht, ob Sie mir glauben werden.» Er holte tief Luft. «Als ich Nadine an dem Nachmittag verließ, war ich am Boden zerstört. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass sie mich wegen eines anderen verlassen würde. Ich war – wie von Sinnen! Ich hatte das Gefühl, betrunken zu sein oder eine schwere Krankheit hinter mir zu haben.»
    Poirot nickte und sagte:
    «Ich erinnere mich, was Lady Westholme über Ihren Gang sagte, als Sie bei ihr vorbeikamen. Darum wusste ich, dass Ihre Frau nicht die Wahrheit sprach, als sie erklärte, sie hätte es Ihnen erst nach Ihrer Rückkehr ins Camp gesagt. Fahren Sie fort, Mr Boynton.»
    «Ich wusste kaum, was ich tat… Aber auf dem Weg ins Camp schien mein Kopf wieder klarer zu werden. Mir ging schlagartig auf, dass ich alles nur mir selbst zuzuschreiben hatte! Ich war ein jämmerlicher Waschlappen gewesen! Ich hätte meiner Stiefmutter die Stirn bieten müssen und schon vor Jahren weggehen sollen. Und mir kam der Gedanke, dass es vielleicht trotz allem noch nicht zu spät war. Da saß sie, diese teuflische alte Frau, hockte wie ein abscheulicher Götze vor der roten Felswand. Ich ging geradewegs zu ihr, um die Sache mit ihr auszufechten. Ich wollte ihr klipp und klar meine Meinung sagen und dass ich weggehen würde. Ich hatte die verrückte Vorstellung, noch am gleichen Abend verschwinden zu können – mit Nadine fortzugehen und noch vor Einbruch der Nacht bis nach Ma’an zu kommen.»
    «Oh, Lennox, Liebster…» Es klang wie ein gedehnter leiser Seufzer.
    «Und dann», fuhr Lennox fort, «mein Gott, ich war wie vom Blitz gerührt! Sie war tot. Saß da – und war tot! Ich – ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war wie betäubt, benommen – alles, was ich ihr ins Gesicht hatte schreien wollen, ballte sich in mir zusammen, wurde zu Blei… Ich kann es nicht erklären. Zu Stein – ja, als würde alles in mir zu Stein. Dann tat ich etwas ganz Mechanisches – ich nahm ihre Armbanduhr – sie lag auf ihrem Schoß – und band sie ihr um – um das schrecklich schlaffe tote Handgelenk…»
    Er erschauerte. «O Gott, es war furchtbar! Dann wankte ich hinunter ins Gemeinschaftszelt. Ich hätte jemand rufen müssen, ich weiß – aber ich konnte es nicht. Ich saß einfach da, blätterte in einer Zeitschrift – und wartete…»
    Er brach ab.
    «Sie werden mir nicht glauben, Monsieur Poirot. Wie könnten Sie auch? Warum habe ich keine Hilfe geholt? Warum Nadine nichts davon gesagt? Ich weiß es nicht.»
    Dr. Gérard räusperte sich.
    «Ihre Erklärung ist absolut plausibel, Mr Boynton», sagte er. «Sie befanden sich in einem Zustand höchster nervlicher Anspannung. Zwei schwere seelische Erschütterungen so kurz hintereinander genügten völlig, um Sie in den Zustand zu versetzen, den Sie uns geschildert haben. Es handelt sich dabei um die so genannte Weißenhalter’sche Reaktion – illustriert am Beispiel eines Vogels, der mit dem Kopf gegen eine Fensterscheibe stößt. Selbst nachdem er sich erholt hat, vermeidet er instinktiv jede Bewegung, um seinen Nervenzentren Zeit zu geben, sich zu erholen – ich kann mich auf Englisch nicht richtig ausdrücken, aber ich will damit Folgendes sagen: Sie hätten gar nicht anders handeln können. Entschlossenes Handeln jedweder Art wäre Ihrerseits absolut unmöglich gewesen! Sie befanden sich in einem Stadium geistiger Lähmung.»
    An Poirot gewandt setzte er hinzu:
    «Ich versichere Ihnen, mon ami, dass es sich so verhält.»
    «Oh, daran zweifle ich nicht», sagte Poirot. «Es gibt da einen kleinen Punkt, der mir bereits aufgefallen war – die Tatsache, dass Mr Boynton seiner Stiefmutter die Armbanduhr wieder umgebunden hat. Dafür kann es zwei Erklärungen geben. Es könnte eine Tarnung für die eigentliche Tat gewesen sein, oder es hätte von Nadine Boynton beobachtet und falsch verstanden werden können. Sie kehrte nur fünf Minuten nach ihrem Mann zurück. Sie muss es also
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher