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Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)

Titel: Der Tod wartet im Netz (Die besten Einsendungen zum Agatha-Christie-Krimipreis 2011)
Autoren: Cordelia Borchardt und Andreas Hoh
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ehrlich sein: Der Sex mit dir war phantastisch. Keiner hatte je zuvor so zärtlich meine Bluse geöffnet und so gekonnt meine Brüste gestreichelt. Du hast genau gespürt, wann ich bereit war, die eine oder andere Tür zu öffnen und dich einzulassen. Das Warten auf den richtigen Augenblick war deine zweite Natur. Unter deinem Bann ließ ich es in jener Nacht zu, dass du ungeschützt in mich eindrangst.

    Erst Monate später wurde die Krankheit bei einer Untersuchung für meinen neuen Job festgestellt. HIV . Ansteckend. Unheilbar. Tödlich. Mit einem vernichtenden Schlag waren meine beruflichen Pläne und privaten Wünsche, mein Lebensmut und meine Unbekümmertheit hinweggefegt. Furcht, Resignation und Untergangsstimmung waren die neuen Herren in meinem Kopf.
    Mir war lange nicht klar, wo ich mich angesteckt hatte. Ich stand unter Schock, durchlebte im Geiste alle ehemaligen Liebschaften, alle zufälligen Berührungen, alle Injektionen, alle Blutspenden. Erst am Schluss kam ich auf dich.
    Du hast mir mein Herz gebrochen. Nach unserer Liebesnacht beschränkte sich unser Kontakt auf die virtuelle Welt. Du wolltest dich nicht binden, frei sein und ich musste sehen, wie ich damit fertig wurde. Dennoch habe ich dich geliebt, dich weiterhin verehrt!
    Irgendwann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und schickte dir eine Nachricht, in der ich meine Diagnose beichtete und dir behutsam nahelegte, dich testen zu lassen. Nach mehreren Tagen ohne Antwort keimte in mir die Befürchtung, du wolltest nie wieder etwas mit mir, der wandelnden Seuche, zu tun haben. Doch irgendwie passte das nicht zu dir? Ein Freigeist, ein Mann, der gesellschaftliche Ängste derart verachtete, sollte Furcht vor einem kleinen Virus haben?
    Das Schlimmste allerdings: Wo waren das Mitgefühl, die Empathie, die ich damals in deinen Augen gesehen hatte? Etwas stimmte da nicht.
    Also schrieb ich dir eine zweite Mail und dann eine dritte und dann eine vierte. Nach der siebten Nachricht bekam ich die Antwort. Oder besser gesagt: die Quittung!
    Als ich deine Mail las, war mir, als hätte mir der Leviathan von Thomas Hobbes persönlich in die Magengrube geschlagen. Deine Botschaft war kurz und sachlich. Ich werde sie nie vergessen. Einhundertzweiundsechzig Wörter, sechs Kommata und zwölf Punkte, ohne einen einzigen orthographischen oder grammatikalischen Fehler. Jedes einzelne Wort war in einer rhetorischen und stilistischen Perfektion ein Pflasterstein auf dem Pfad zum letzten Satz: »Nun, da auch du dazugehörst, kannst du die wahre Bedeutung von
Carpe Diem
verstehen.«
    Ja, ich verstand. Nun durchschaute ich dein scheinbares Feingefühl, deine heuchlerischen Plädoyers für die freie Entfaltung. Es war dir immer nur um die hedonistische Befriedigung deiner eigenen Triebe gegangen, bevor deine Zeit kommen würde, um zu sterben. Es schien dir völlig egal zu sein, ob dabei ein anderes Leben mit ins Verderben gerissen wurde.
    Ich las deine Zeilen immer und immer wieder. Wie eine wütende Glut brannten sie sich in meinem Gehirn ein und setzten dort alles in Flammen. Aus diesem Feuer entstieg eine unbeschreibliche Kraft, vertrieb die Gedanken voller Selbstmitleid und Jammer aus meinem Kopf und schaffte Platz für einen neuen Herrscher: Rache.
    Auf einmal kannte ich nur noch ein Lebensziel: Du solltest für deine Schandtat büßen! Aber wie sollte ich das bewerkstelligen? Hatte ich außerdem nicht genügend Probleme mit meinem eigenen, kümmerlichen Leben? Meine Ärzte konnten mir nicht sagen, wie lange ich noch zu leben hatte. Zehn Jahre, vielleicht fünfzehn, mit viel Glück sogar zwanzig.
    Täglich musste ich Medikamente schlucken: Ein Übelkeit erregender Cocktail aus Lopinavir, Ritonavir und Combivir musste zweimal am Tag, minutengenau, zu festen Uhrzeiten eingenommen werden.
    Beinahe genauso oft musste ich kotzen, und mein Kopf wollte vor Schmerzen platzen. Aber ich hielt durch! Wie ein Mantra wiederholte ich immer wieder die Sätze aus deiner Mail und schöpfte daraus die Wut zum Weitermachen. Rückblickend erscheint es mir, als hätte ich selbst im Schlaf fieberhaft überlegt, wie ich mich an dir rächen konnte.
    Durch deine sorgfältigen Formulierungen enthielt deine Mail keinen belastenden Satz, der vor einem Gericht als Beweis ausgereicht hätte. Ich wusste, dass ich irgendwie deine Adresse oder deinen Nachnamen erfahren musste. Alles Flehen, Jammern und Anbiedern beim Webmaster des Forums half nichts. Er konnte oder wollte meine Beweggründe nicht
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