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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester
Autoren: Diane Chamberlain
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am meisten leidtut, ist der arme George Lewis”, fügte ich hinzu.
    Plötzlich begann Julie zu weinen. Ethan stand auf und zog sie wieder sanft in seine Arme. Ich war ihm dankbar, dass er auf diese Weise erneut in ihrem Leben aufgetaucht war. Trotz meiner früheren Bedenken gefiel mir die tröstliche Vertrautheit zwischen den beiden, und ich war froh, dass zumindest etwas Gutes aus dieser ganzen Sache entstanden war. Doch obwohl alle versuchten, Julie zu trösten, war sie völlig aufgelöst. Sie schien nicht aufhören können zu weinen. Ethan blickte über ihre Schulter hinweg zu mir. “Sie hatte immer das Gefühl, als ob alle ihr die Schuld an Isabels Tod gaben”, erklärte er.
    Oh nein, dachte ich verzweifelt. War das mein Fehler? Ich stand auf und stellte mich neben sie.
    “Liebes”, sagte ich leise und streichelte Julies Rücken. “Ich habe dir niemals die Schuld gegeben.” Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Am Anfang hatte ich ihr die Schuld gegeben, doch das war nur vorübergehend. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass sie ihrer Schwester nicht hatte schaden wollen. Mein Zorn auf sie war einer Trauer gewichen, die mich lange beschäftigt hatte. Niemals war mir der Gedanke gekommen, die schrecklichen Dinge zurückzunehmen, die ich in den Stunden und Tagen nach Isabels Tod zu Julie gesagt hatte. Blind vor Trauer, war mir Julie immer ganz normal vorgekommen. Nun erkannte ich, wie sehr sie gelitten hatte, und ich sah nun auch die Chance, den Mutter-Tochter-Konflikt anzusprechen, der unsere Familie zu verfolgen schien.
    “Julie, falls irgendjemand außer Ross Schuld an Isabels Tod hat, dann bin ich das”, gestand ich.
    Julie schüttelte energisch den Kopf. Sie machte sich von Ethan los und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. “Nein, Mom”, entgegnete sie. “Das darfst du nicht einmal denken.”
    “Doch es ist die Wahrheit”, beharrte ich. “Indem ich sie zu sehr festhielt, stieß ich Isabel von mir weg.” Ich blickte meiner Tochter eindringlich ins Gesicht. “Hörst du mich, Lucy?”, fragte ich. “Hörst du mich? Ich möchte nicht, dass du mit Shannon den gleichen Fehler machst.”

48. KAPITEL
    J ulie
    Ich hatte jede Menge zu essen vorbereitet – Melone und Erdbeeren, Bagels mit Frischkäse, Rührei und Würstchen –, doch niemand brachte mehr als ein paar Bissen hinunter. Wir saßen im Esszimmer, weil es auf der Veranda zu heiß war. Das Rührei und die Würstchen wurden kalt, während wir redeten und Dinge aussprachen, die nie zuvor gesagt worden waren. Hätte ich schon vor Jahrzehnten den Mut gehabt, mit meiner Mutter über Isabel zu sprechen, wäre mein Leid – und sicherlich auch ihres – viel kleiner gewesen. Stattdessen wurde ich zu einer Erwachsenen, die ihre Schuldgefühle hegte und das Geschehene nach wie vor aus der Perspektive einer Zwölfjährigen beurteilte. Warum nur hatten wir das Thema vierzig Jahre lang geflissentlich übersehen? Dachten wir, es würde sich von allein erledigen, wenn wir es nur lange genug ignorierten? Dass wir es einfach aushungern konnten? Ich schwor mir, diesen Fehler nie wieder zu machen. Die Dinge anzusprechen war sicherlich oft schmerzhaft, doch man konnte es mit einer Impfung vergleichen. Die Nadel stach, aber das war nichts im Vergleich zu der eigentlichen Krankheit.
    Nach dem Brunch ging Ethan in mein Schlafzimmer, um sich ein bisschen hinzulegen. Seine Tochter Abby würde später mit ihrem Mann und ihrem Baby eintreffen. Gemeinsam wollten wir die Beerdigung von Ethans Vater vorbereiten.
    Lucy ging, nachdem sie mir und Mom beim Aufräumen geholfen hatte; sie hatte noch eine Probe mit den ZydaChicks. Doch meine Mutter blieb bei mir. Als die Küche sauber war, setzte sie sich zu mir aufs Sofa im Wohnzimmer und hielt meine Hand. Oder vielleicht hielt ich ihre. Wie auch immer, es fühlte sich jedenfalls gut an.
    “Da ist noch etwas, über das wir nie gesprochen haben”, begann ich, als wir ein paar Minuten so dagesessen hatten. “Etwas, das ich dir nie gesagt habe.”
    “Was denn, Julie?”, fragte sie.
    “Wie sehr ich dich liebe”, erwiderte ich. “Als Kind habe ich dir das oft gesagt, doch irgendwann habe ich es mir abgewöhnt. Von jetzt an wirst du es wieder oft hören.”
    “Auch wenn du es nicht gesagt hast, habe ich es doch gespürt.” Sie lächelte. “Aber ich höre es natürlich furchtbar gern.”
    “Außerdem”, fuhr ich fort, “finde ich dich klug und schön und voller Lebensfreude. Ich bin froh, dass ich dich als
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