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Der Tod bin ich

Der Tod bin ich

Titel: Der Tod bin ich
Autoren: Max Bronski
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Vorlesung anging, es handelte sich um jüngere Semester, die erstmals mit dieser Materie in Berührung kamen, konnte diese Charakterisierung kaum zutreffender sein. Es war, als würden sie von der lichten Plattform ihres Wissenschaftsgebäudes in den dunklen Keller hinabsteigen. Oben gab es alles, was sich Studenten von einer Wissenschaft erwarten durften, wie Wiederholbarkeit, Objektivität und Regel, unten herrschten Zufall, Subjektivität und Wahrscheinlichkeit. Oben regierte das sinnlich Erfahrbare, das Kompakte und mit Händen zu Greifende, unten das Unsichtbare, Flüchtige und nur in Bildchiffren Darstellbare.
    Zu Beginn der Vorlesungen zerriss Ashton Papier, zerknüllte es und legte die Teile demonstrativ auf verschiedene Seiten seines Katheders. In der Physik, die sie bisher kennengelernt hätten, sei klar geschieden, ob sich das Papier hier oder dort befinde. In der Quantentheorie seien diese Verhältnisse aufgehoben, die Eindeutigkeit des Ortes nämlich. Bei Elementarteilchen existierten Überlagerungen und Mischzustände, nach denen das Papier gleichzeitig hier wie dort, ja sogar überall angenommen werden müsse.
    Die Studenten warteten darauf, dass derart steile Thesen zu guter Letzt wieder aufgehoben und in einem wissenschaftlichen Prinzip befriedet würden, aber genau das geschah nicht. So entspann sich ein zäher, manchmal aussichtsloser Kampf, den sogenannten gesunden Menschenverstand zu verabschieden, der gegen dergleichen rebellierte.
    Ashton gefiel sich in der Rolle eines Meisters der Unterwelt. Das Paradoxe müsse hart an die Schädel der Lernenden stoßen, nur dann finde es Eingang. Er hoffte, damit jede Studentengeneration aufs Neue verblüffen zu können. Vielleicht würde seine Vita nicht nur derVermerk zieren, er sei Paul Dirac nachgefolgt, sondern später auch einmal das schmückende Beiwort
würdig
dazu kommen.
    Ashton sah auf die Uhr. Um pünktlich zu beginnen, war noch eine halbe Stunde Zeit, ausreichend Gelegenheit also, einen Kaffee bei
Martha’s
zu nehmen. Um sich später keine Blöße zu geben, war es hilfreich, sich vor Beginn der Veranstaltung sammeln zu können. Dass er für diese schon Jahrzehnte währende Reihe keine spezielle Vorbereitung mehr benötigte, verstand sich. Das von ihm verfasste
Kompendium der Quantenphysik
, das als Taschenbuch weite Verbreitung erfahren hatte, genügte ihm als Vorlage.
    Ashton bestellte einen Milchkaffee und zog das zerfledderte Exemplar seines Buchs aus der Tasche. Heute wollte er die aussichtsreichsten Versuche vorstellen, eine Weltformel zu entwickeln. Er und seine Kollegen, die schon seit der Mitte des letzten Jahrhunderts in diese Richtung gearbeitet hatten, scheuten sich nicht, mit diesem Begriff umzugehen. Selbst wenn er inzwischen in leere Gesichter blickte, verwendete er ihn aus konservativem Trotz gerne.
    Allerdings ließen sich die Pioniere dieses Unterfangens von allzu großem Optimismus leiten, wenn sie glaubten, die Tür zur Formel stünde bereits offen. Ihre Zuversicht war jedoch verständlich, denn Kaltenbrunner, Petri und Oftenhain waren geprägt gewesen von stürmischen, ja geradezu rauschhaften Fortschritten ihres Fachs. Die Physik hatte sich in den zwanziger und dreißiger Jahren aus der Umklammerung einer lähmenden Stagnation gelöst, die Max Planck mit einer bahnbrechenden Entdeckung ausgelöst hatte: Er wies nach, dass Strahlung nicht, wie angenommen, kontinuierlich, sondern in Paketen abgegeben wurde. Die nach ihm benannte Naturkonstante ließ das bis dahin fest gefügte und scheinbar vollendete Wissenschaftsgebäude in sich zusammenbrechen, es gab keine Theorie, noch nicht einmal eine Vorstellung, die diesen Nachweis plausibel aufnehmen und fortspinnen konnte. Erst als sich die Physik von denPrägungen löste, die in der Industrialisierung ihren Ausdruck gefunden hatten und in denen man förmlich den Schweiß der aufgewendeten mechanischen Arbeit riechen, die Last von Gewichten auf dem Buckel spüren und den Dampfhammer beim Zusammenprall von Körpern krachen hören konnte, eröffnete sich mit der Quantenmechanik ein Verständnis des Kleinen und Kleinsten.
    Der Schwung hatte sie alle getragen, keine Entdeckung schien mehr ausgeschlossen. Doch dann, als alles Naheliegende gedacht und bewiesen war und die neue Architektur des Gebäudes Gestalt annahm, erlahmte der Schwung und der Anlauf auf die Weltformel schien fürs Erste gescheitert: Weder Petri, Kaltenbrunner noch Oftenhain, ja nicht einmal Einstein legten etwas
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