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Der Tod bin ich

Der Tod bin ich

Titel: Der Tod bin ich
Autoren: Max Bronski
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stattgefunden haben mochte. Aber in Ashton hatte er endlich die Schlüsselfigur jener Kette von Ereignissen vor sich, die ihn aus seinem beschaulichen Leben in Berlin vertrieben hatte.
    In sicherem Abstand folgte er ihnen. Ashtons Stimme hallte in dem engen Gewölbe. Langsam tastete sich Malikow an den Zugang zur Plattform und lugte hinaus. Ein Nebelschleier umfing den Nordturm, aber er sah klar genug, um zu verstehen, was Ashton vorhatte. Er zielte mit seiner Waffe auf den Kopf des Mannes und drängte ihn und Ella Senoner zur niedrigen Brüstung des Turms. Malikow zog seine Stetschkin hervor. Eigentlich stellte der Gebrauch seiner Waffe keine wirkliche Option dar. Die Sicht war schlecht, vor allem konnte ein fehlgehender Schuss die beiden anderen treffen. Andererseits war es die einzige Möglichkeit, überhaupt noch einzugreifen. Malikow stützte seinen Arm auf einem Mauervorsprung ab, um seine Pistole darauf zu betten. So gesichert konnte er ruhig zielen und den Rückstoß abfangen. Er visierte Ashton an und schoss.
    Ashton taumelte zur Seite, bald war jedoch klar, dass er ihn verfehlt hatte. Durch den unerwarteten Schuss erschrocken, war er in einem ungelenken Sprung ausgewichen und blickte nach dem Treppenzugang, wo er den Schützen vermutete.
    Malikow tauchte ab und nahm daher das nun Folgende nur mehr schemenhaft wahr: Der ihm unbekannte Dritte schob Ella Senoner beiseite, stürzte sich auf den immer noch abgelenkten Ashton und stieß ihn über die nur kniehohe Umrandungsmauer vom Turm hin unter.
    Malikow brauchte trotz der überraschenden Wendung nur einen kurzen Moment, um sich wieder zu sammeln. Dann rannte er die Treppen hinunter, hastete hinüber zum Mitteltrakt, verlangsamte nun sein Schritte und ging in zivilem Tempo hinter einer Gruppe junger Leute her, die er für Studenten hielt. Noch war alles ruhig, aber bald würde der Hof von Polizei und Rettungskräften wimmeln.
    Eine Stunde später saß Aaron Malikow im Zug nach London, King’s Cross.
     
30.
    Friede war in unser Leben zurückgekehrt. Mutter hatte sich wieder zu ihrem geliebten Rettachhof begeben, ich bezog das von meinem Vater ererbte Haus Moosrain und lebte darin wie ein Mönch. Wer allerdings mit der Geschichte des Mönchtums vertraut ist, weiß, wie viele unterschiedliche Wege sich zum selben Ziel beschreiten lassen. Jede Zeit und jede Kultur bringt ihren eigenen Heilsbringer und Erlösungspfade hervor. Techniken der Versenkung, Vergegenwärtigung und Entrückung wurden in großer Fülle entwickelt, und viele davon haben sich über die Jahrhunderte hinweg bis heute erhalten. Sich der tiefen Weisheit religiöser Traditionen zu verschließen wäre unklug, allerdings sprach nichts dafür, sich einseitig auszurichten und infolgedessen andere, gleichermaßen einleuchtende Lebensregeln zu verwerfen. Mein Mönchstum war die goldene Mischung aus dem Besten, was diese spirituellen Bewegungen hervorgebracht hatten: Ich harkte mit demütiger Geduld den japanischen Zengarten, den mein Vater mit so viel Liebe angelegt hatte, saß bisweilen auf einerBastmatte, um zu meditieren, rauchte wie die Rastafari das Kraut der Erkenntnis, wusste aber auch den Gerstensaft der Klosterbrüder zu schätzen, um in den Brunnen des Vergessens zu blicken. Protestantischerweise gab ich meine Arbeit nicht auf, stellte allerdings katholischerweise auf halbtags um und ließ mir von Leo einen Gehilfen beigeben. Auch gegen die Sinnenfreude eines Sannyasin habe ich noch nie Einwände gehabt.
    Die einzige Aufregung in den gemächlich fließenden Jahren brachte ein Besuch Hambichls mit sich. Natürlich trafen wir uns hin und wieder in Ottenrain, auch des Öfteren in der Schloss-Schänke, aber diesmal fuhr er persönlich in seinem Kleinwagen bei mir vor. Er verwirklichte einen Plan, zu dem ich ihn ermuntert hatte, und richtete die Komposition meines Vaters für das Orchester ein. Er überbrachte mir die Partitur.
    – Natürlich habe ich bei dieser Gelegenheit in der Sakristei alles abgesucht, ob sich zu seinen Kompositionen noch hilfreiche Hinweise finden. Dabei habe ich ein kleines Erinnerungsstück gefunden, dass dich vielleicht interessieren wird.
    Er zog aus seiner Mappe eine vergilbte, abgewetzte Fibel.
    – Das Mathematikbuch von Eulmann. Lag in der Sakristei in einer Holzkiste zwischen den Gebetbüchern.
    Ich schlug es auf. Überall an den Rand waren Noten gekritzelt. Mir war sofort klar, worum es hier ging. Was in diesem Buch niedergelegt war, hatte Menschenleben gekostet,
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