Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
erstattet. Die nötigen Formalitäten werden so bald wie möglich erledigt.«
    »Wie bald?«, fragte Margaret. »Ich kenne die Rechtsanwälte.«
    »Sie kennen diesen hier nicht. Es wird nicht lange dauern. Parrish hatte die Stirn, eine Schadensersatzklage wegen der zertrümmerten Möbel einzureichen, doch damit kommt er nicht durch. Man ist zurzeit dabei, die Anklage gegen ihn zu formulieren, doch das dauert länger als zunächst angenommen. Es kommen laufend neue kriminelle Taten ans Licht.«
    »Und was ist mit Mr Goldberg?«, fragte Margaret.
    »Das war etwas schwieriger. Ohne Zweifel ist das Vergehen, dessen er angeklagt wird – wenn es denn ein Vergehen ist –, politischer Natur, folglich kommt eine Auslieferung nicht in Betracht. Freilich könnte man ihn immer noch abschieben, wenn man es darauf abgesehen hätte. Und das hatte man wohl – zumindest ein Stellvertretender Polizeidirektor, den Lee in der Tasche hatte. Diesem Gentleman habe ich eine eidesstattliche Erklärung der Dame gezeigt, die eines dieser Etablissements leitet, bei denen Parrish abkassieren ließ.«
    Margaret machte ein undefinierbares Geräusch. Sie wusste nicht, wie sie über Bordelle reden sollte, ohne rot zu werden.
    Wentworth fuhr fort: »Der Skandal wäre verheerend gewesen. Das sah der Gentleman ein und so hat Goldberg von dieser Seite nichts mehr zu fürchten. Er wird heute Nachmittag aus der Haft entlassen, sobald alle Formalitäten erledigt sind. Miss Lockhart kommt mit mir, um ihn zu begrüßen, ebenso Mr Taylor.«
    »Jim ist schrecklich neugierig«, sagte Margaret. »Er ist Sallys ältester Freund, wissen Sie. Die beiden sind wie Geschwister. Er ist auf sich selbst böse, weil alles passieren musste, während er verreist war und … nicht bei ihr sein konnte. Ich wollte sagen: ›und sie nicht beschützen konnte‹, aber so sehen die beiden das nicht. Er weiß, was für eine starke Frau sie ist. Und nun hat er so viel über Daniel Goldberg gehört – und er war ein sehr enger Freund von Harriets Vater … Ja, ich glaube, all das macht ihm etwas zu schaffen.«
     
    Am darauffolgenden Morgen arbeitete Jim an der glasüberdachten Konstruktion hinter dem Haus. Bei ihm war ein hagerer, unerschrocken aussehender Mann in den Sechzigern mit grauem Bart und kurz geschorenem grauem Haar, der noch stärker von der Sonne gebräunt war als Jim.
    Während sie vorsichtig eine Glasscheibe in Stellung brachten und den Kitt aus dem Rahmen kratzten, sagte der ältere Mann: »Erzähl mir mal von diesem Goldberg.«
    Jim blinzelte in die Sonne und wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht.
    »Tja«, begann er, »er ist … Ich erzähle dir einfach, was passiert ist. Also, Sally, der Anwalt und ich, wir sitzen in dem stickigen kleinen Besuchszimmer neben der Gefängnispforte und treiben artig Konversation: Gott sei Dank hat der Regen endlich aufgehört, brauchen die hier wirklich so viele Schlüssel und so weiter. Sally rutschte die ganze Zeit unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Schließlich gaben wir das Reden auf und schauten aus dem Fenster. Dann hörte man Schlüsselgeklirr, die Tür ging auf und er kam mit einem Wärter herein.
    Er ist ein kräftiger Bursche, breite Schultern, große Hände. Dunkles, schwarzes Haar – markante Nase – durchdringender Blick. Sally war mit einem Satz auf den Beinen, als sie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Er rührte sich nicht und sie rührte sich nicht, aber dann lagen sie sich mit einem Mal in den Armen und küssten sich, als hätten sie es gerade erfunden.«
    »Soso, küssten sich«, sagte der alte Mann belustigt.
    »Mir fehlen die Worte, Mr Webster.«
    »Nein, tun sie nicht«, sinnierte Webster Garland, »aber manchmal sind sie schwer zu finden, doch das ist ein anderes Problem. – Kein Wunder, dass sie gestern Abend so einen verschleierten Blick hatte.«
    »Ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Dem Anwalt ging es ähnlich. Deswegen haben wir uns schließlich dezent zurückgezogen. Jedenfalls sind sie nach einer oder zwei oder zehn Minuten herausgekommen und dann hat man uns höflich einander vorgestellt.«
    »Und?«
    »O ja. Ich darf sagen, dass er aus hartem Holz geschnitzt ist. Hat vor nichts Angst, ganz wie Fred. Denk nur: Er rettet Harriet in Clapham, bekommt einen Schuss in die Schulter, läuft den ganzen Weg bis nach Whitechapel, stellt sich einer Rotte von Randalierern entgegen – und hält sie mit einer Geschichte bei der Stange, bis die Polizei kommt. Kein Zweifel, er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher