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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen
Autoren: Philip Pullman
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diese Ansicht allgemein durchgesetzt und alles drehte sich dem anderen Ende des Saales zu, wo der besagte Goldberg saß.
    Er war eine auffallende Erscheinung: ein Mann Ende zwanzig, dichtes schwarzes Haar, eine kräftige Nase, funkelnde schwarze Augen. Von untersetzter Gestalt, Schultern wie ein Schauermann und Fäuste wie ein Preisboxer, so saß er an einem Tisch, vor sich einen Stapel Papiere, und schrieb wie ein Besessener, die Feder immer wieder energisch in das Tintenfass tauchend, ohne sich um die Kleckse zu kümmern, die auf den Tisch, das Papier und seine Hände fielen. Zwischen den Zähnen klemmte eine Zigarre, die einen beißenden Qualm verbreitete.
    Als er merkte, dass es im Raum plötzlich stiller geworden war, blickte er auf. Ein Mann aus den hinteren Bänken sagte zu ihm: »Genosse Goldberg, wir können uns nicht entscheiden. Die Argumente für Polnisch schienen mir unwiderlegbar, bis ich die Argumente für Deutsch hörte; aber dann warfen die Argumente für Russisch wieder alles über den Haufen, während ich im Stillen die ganze Zeit schon meinte, die Zeitung sollte in Jiddisch erscheinen, aber -«
    Fünf Stimmen ereiferten sich gleichzeitig gegen ihn, doch er hob nur die Stimme und fuhr, über den Tumult hinweg, fort: »Aber wir haben deine Meinung noch nicht gehört. Wie lautet dein geschätztes Urteil? In welcher Sprache soll unsere Zeitung erscheinen?«
    Goldberg nahm die Zigarre aus dem Mund, streifte die Asche ab und sagte bloß: »In Englisch.«
    Der Tumult wurde noch größer. Goldberg schien das erwartet zu haben, denn er fuhr genau an der Stelle mit dem Schreiben fort, an der er knapp eine Sekunde zuvor aufgehört hatte. Der Mann, der neben ihm saß, fuchtelte in seiner Erregung so heftig mit dem Zeigefinger, dass er beinahe das Tintenfass umgeworfen hätte. Goldberg neigte den Kopf, um besser hören zu können. Mit der Linken brachte er das Tintenfass in Sicherheit, während er mit der Rechten unbeirrt weiterschrieb. Dann gab er eine kurze Antwort, setzte aber die Feder nicht ab, bis er den unteren Rand des Blattes erreicht hatte. Mit einer raschen Bewegung schnippte er das Blatt beiseite und schickte sich an, ein neues zu bedecken.
    Die Sozialisten diskutierten munter fort, bis der Vorsitzende schließlich genug von diesem Treiben hatte. Ruhe heischend schlug er mit einem Hammer auf den Tisch.
    »Genossen! Genossen! Die freie Diskussion ist der Lebensnerv des demokratischen Sozialismus, aber wir sollten einander nicht nur das Sprechen, sondern auch das Zuhören erlauben! Genosse Goldberg, könntest du bitte erläutern, was deiner Meinung nach für das Englische spricht?«
    Der Vorsitzende hatte sich auf Jiddisch an ihn gewandt und Goldberg antwortete in derselben Sprache. Er erhob sich und begann mit rauer, sonorer Stimme: »Dafür sprechen drei Gründe …« Alle, die auf Bänken und Stühlen saßen, hatten sich zu ihm gedreht und spitzten die Ohren. »Erstens sind wir hier in England. Manche wollen in ihre alte Heimat zurückkehren, andere wollen nach Palästina auswandern und wieder andere nach Amerika, aber soll ich euch sagen, wo die meisten von uns sterben und ihre letzte Ruhe finden werden? In England, Genossen. Eure Kinder werden einmal Kinder haben, die hier geboren sind und sich als Engländer fühlen und weder Polnisch noch Russisch noch Deutsch sprechen. Aus diesem Grund hätte eine Zeitung in Polnisch eine geringe Verbreitung. Gleiches gilt für eine Zeitung in Jiddisch, mit dem zusätzlichen Nachteil, dass sie nur von Juden gelesen würde. Ist das etwa eine rein jüdische Bewegung? Ist der Sozialismus nur zum Nutzen der Juden erfunden worden und sollen die Gojim, die Nichtjuden, ausgeschlossen sein? Das sehe ich nicht so, Genossen. Doch wenn ich heute Abend in die Runde schaue und wenn ich mich an viele andere Versammlungen erinnere, dann stelle ich immer dasselbe fest – nämlich was? Wir alle sind Juden. Warum schließt ihr die Gojim aus? O gewiss, offiziell wird niemand ausgeschlossen – aber ganz zufällig werden alle Mitteilungen in Jiddisch veröffentlicht. Wenn das Sozialismus sein soll, Genossen, dann mag ich ihn nicht. Wir sollten in der Gesellschaft, in der wir leben, um fähige Männer werben, die mit uns sympathisieren. Das aber geht am besten, wenn wir in Englisch publizieren. Wir sollten Männer, die Talent haben und guten Willens sind, willkommen heißen, und wir sollten auch Frauen aufnehmen. In der Tat …«
    Das Ende des Satzes ging im allgemeinen Tumult
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