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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen
Autoren: Philip Pullman
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Mitternacht warten, dann kam eine Kutsche den Kai entlanggefahren und hielt vor der Landungsbrücke.
    Es war eine große, luxuriöse Kutsche in einer besonders schweren Ausführung. Von unserem Versteck aus konnten wir zwar nicht sehen, wie er ausgeladen wurde, aber -«
    »Ausgeladen?«, fragte Goldberg verblüfft.
    »Du siehst gleich, warum. Als die Kutsche wenig später wegfuhr, sahen wir ihn auf der Landungsbrücke, wie er von zwei Matrosen gezogen und zwei Dienern geschoben wurde. Er saß in einem Rollstuhl, ein Koloss von einem Mann. Ein weiterer Diener trug ihm eine Reisedecke oder etwas Ähnliches. Und außerdem – ob du es glaubst, Genosse Goldberg, oder nicht – habe ich den Dibbuk gesehen.«
    Goldberg blickte auf. Liebermanns Gesicht wirkte angespannt, das Glas Brandy hatte er fast leer getrunken. Während Goldberg ihm nachschenkte, fuhr Liebermann fort.
    »Ein kleines, schattenhaftes Wesen von der Größe einer Katze – aber von menschlicher Gestalt. Ein Homunkulus wie aus der Retorte eines mittelalterlichen Kabbalisten. Er sprang und hüpfte vor ihm die Landungsbrücke hinauf …«
    Am ganzen Körper zitternd, schloss Liebermann die Augen und seufzte.
    »Auf jeden Fall brachten sie den Mann an Bord, dann hoben sie auch seine Kutsche mit einem Kran hinauf. Danach verließen der Genosse und ich unser Versteck. Später erreichte ich auf dem Landweg Rotterdam. Dort hörte ich wieder vom Zaddik. Es war an Bord eines Schiffes, während der nächtlichen Überfahrt. Ich war an Deck und versuchte es mir hinter einem Rettungsboot so gemütlich wie möglich zu machen. Da hörte ich, wie sich zwei Männer in meiner Nähe unterhielten. Der Schiffsmotor dröhnte, ich konnte das Vibrieren durch die Trennwand spüren. Es war in der Nähe des Schornsteins, im Hintergrund waren die Lichter der Stadt zu erkennen. Ich hatte mich unter meinen Regenmantel gekauert, die Silhouette der beiden an der Reling lehnenden Männer hob sich gegen den Nachthimmel ab. Sie sprachen Englisch.
    Einer der beiden sagte: ›Sechsundfünfzig Passagiere, pro Kopf fünf Gulden, macht zweihundertundachtzig Gulden. Du schuldest mir zehn Prozent, also achtundzwanzig Gulden.‹ Ich erkannte seine Stimme, es war der Beamte, der die Papiere der Passagiere beim An-Bord-Gehen gestempelt hatte.
    Der andere entgegnete: ›Von zehn Prozent war nie die Rede. Wir hatten fünf vereinbart.‹
    Darauf der Beamte: ›Der Preis ist gestiegen. Das ist die letzte Überfahrt von Rotterdam, die wir auf diese Tour machen können. Die Behörden wollen mittlerweile auch davon profitieren und ich brauche meinen Anteil. Zehn Prozent oder ich gehe zum Zaddik.‹
    Der andere murrte zwar, zahlte aber schließlich doch. Dann sagte er: ›Der Zaddik ist in Russland, wie ich neulich gehört habe. Kehrst du dorthin zurück?‹
    ›Er kommt her‹, antwortete der Beamte, ›er ist auf dem Weg nach London. Die Organisation steht schon.‹
    Der zweite Mann sagte: ›Wenn wir es auf die Tour nicht mehr machen können, wie fangen wir es dann das nächste Mal an?‹
    Darauf der Beamte: ›Wenn du nach London kommst, frag einen Mann in der Blackmoor Street, einen gewissen Mr Parrish. Er wird es dir sagen.‹
    Was der andere entgegnet hat, konnte ich nicht hören, weil gerade in diesem Augenblick die Schiffssirene ertönte. Ich sah noch, wie sie sich die Hand gaben und der Beamte wegging. Der andere Mann blieb, bis das Schiff ablegte und in See stach, dann ging er unter Deck. Ich spürte, wie mir allmählich übel wurde.«
    Er hielt inne und ließ sich zurücksinken. Goldberg schaute angespannt ins Leere und klopfte sich mit dem Federhalter gegen die Zähne.
    »Sagtest du Parrish?«, vergewisserte er sich. »In der Blackmoor Street?«
    »Den Namen habe ich gehört, aber mehr nicht. Es tut mir leid, Genosse Goldberg, aber beim Von-Bord-Gehen konnte ich ihm nicht folgen. Ich war am Ende meiner Kräfte. Außer seinem Namen weiß ich nichts über diesen Parrish … Sagt dir der Name etwas?«
    »Allerdings«, sagte Goldberg. »Ich habe von Mr Parrish gehört. Aber ich wusste nicht, dass er auch in diese Sache verwickelt ist … Liebermann, das ist alles hochinteressant. Ich bin dir sehr dankbar.«
    Liebermann hatte die Augen geschlossen. Im Zimmer gab es keinen Ofen, es war kalt. Goldberg zog die Decke von seiner Schlafstatt und legte sie Liebermann um die Schultern. Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf seine Zigarren, begnügte sich aber damit, sich eine unangezündet zwischen die Zähne
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