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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen
Autoren: Philip Pullman
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Seehäfen – «
    »Ja, das weiß ich alles. Worin besteht die Neuigkeit?«
    »Ich komme ja gleich darauf.«
    »Dann komm schneller zur Sache. Das war ein Manko bei deinem Artikel über die Banken, wenn ich das mal so sagen darf. Du hast zu viel Anlauf genommen. Eine Zeitungsstory muss gleich im ersten Satz das Wesentliche sagen. Bei Erörterungen, Essays, Reiseberichten ist das etwas anderes, aber bei einer Story muss das Wichtigste in den ersten Satz. Alles andere ist Darstellung, Erklärung, Hintergrund – man kann es wegwerfen, wenn man es nicht braucht. Ich weiß, was an den Grenzen los ist. Sag mir jetzt in einem Satz, worum es geht.«
    »Der Mann, der dahintersteckt, ist als der Zaddik bekannt und er ist auf dem Weg nach London.«
    »Ah, das ist schon besser. Ich sehe, aus dir wird noch ein erstklassiger Journalist. Hier sind wir …«
    Sie standen vor einer Tür im zweiten Stock des Hauses. Goldberg öffnete sie und hieß Liebermann einzutreten, dann zündete er mit einem Streichholz eine Öllampe an. Liebermann ließ sich auf dem nächsten Stuhl nieder und hustete.
    Goldberg betrachtete ihn; die glühenden Wangen, die flackernden Augen hatten etwas Beunruhigendes. Er stellte den Rucksack ab, machte auf dem Schreibtisch Platz für die Papiere, die er mitgebracht hatte, und schenkte Liebermann ein Glas Brandy ein.
    »Also, dann schieß los. Was weißt du über den Zaddik?«
    Liebermann nahm das Glas mit beiden Händen, trank einen Schluck und schloss die Augen. Der Alkohol wärmte ihm Mund und Kehle. Goldberg setzte sich unterdessen an den Tisch.
    »Zum ersten Mal habe ich von ihm in Riga gehört«, begann Liebermann. »Ich war mit einem Genossen unterwegs, der mich zu einer Behörde, einer Zweigstelle des Britischen Konsulats führen sollte, die einwanderungswillige Ausländer registriert.«
    »So eine Behörde gibt es gar nicht«, sagte Goldberg, »das ist Bauernfängerei.« Er holte Tintenfass und Federhalter aus dem Mantel. Die Papiere, die er mit heraufgebracht hatte, legte er unter dem Tisch auf den Boden und beschwerte sie mit einem faustgroßen Stein. Dann öffnete er das Tintenfass und begann zu schreiben, während Liebermann weitersprach.
    »Das habe ich auch herausgefunden. Ich gab an, ein russischer Jude zu sein, der nach England einreisen wollte. Der Mann im Büro – ein Engländer – stellte mir eine Reihe von Fragen und schrieb meinen Namen auf eine Liste. Damit hätte ich das Recht erworben, mich drei Monate lang in London aufzuhalten. Dutzende anderer Leute hatten denselben Wunsch. Manche konnten nicht zahlen, sie besaßen kein Geld mehr. Sie hatten Ähnliches schon auf dem ganzen Weg von Kiew her erlebt: eine Transitgebühr in Moskau, einen Meldeschein in einer anderen Stadt, ein Visum beim Grenzübergang – es nahm kein Ende; auf jeder neuen Etappe mussten sie irgendjemandem eine Gebühr bezahlen.«
    »Der Zaddik«, drängte Goldberg.
    »Ja, gleich. Der Genosse, der mich führte, erzählte mir von ihm. Es scheint, dass die Leute – die Juden – alle Furcht vor einer geheimnisvollen Gestalt haben, die sie den Zaddik nennen, so als ob all ihr Unglück – die Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen, die Schikanen und die Verfolgungen – das Werk eines Mannes wären. Die Leute sind abergläubisch, sie meinen, er sei mehr als ein Mensch. Ob in den Schtetln auf dem Land oder in den Gettos von Warschau, Bukarest oder Wien, überall wird vom Zaddik geredet, als sei er ein Dämon, ein übermenschliches Wesen. Es heißt, er habe einen Dibbuk zum Gehilfen, einen kleinen dienstbaren Geist aus der Hölle. Der Name Zaddik – der ja einen gerechten, heiligen Mann bezeichnet – wird als eine Art Gegenzauber benutzt, um das Böse fernzuhalten. Als ich das zum ersten Mal hörte, konnte ich mir nur an den Kopf greifen: Was kann man gegen den blanken Aberglauben schon tun? Aber jetzt … Ich habe ihn nämlich selbst gesehn, Goldberg. Ich glaube, die Leute haben Recht.
    Das Ganze trug sich folgendermaßen zu. Der Genosse in Riga führte mich zu einem Lagerhaus am Hafen, von dem aus man einen Blick auf die Landungsbrücke eines Dampfers hatte. Es war spät in der Nacht, der Kai war schon früher am Abend abgesperrt worden. Hätte man uns dort erwischt, wären wir ins Gefängnis gekommen. Wir hatten uns postiert, um den Zaddik an Bord des Dampfers gehen zu sehen. Es war sehr geheimnisvoll. Nur wenige kennen den Zaddik, da er stets nur im Schutz der Dunkelheit reist. Wir mussten bis weit nach
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