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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen
Autoren: Philip Pullman
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Hamburg oder Rotterdam an. Dort kauften sie von ihrem letzten bisschen Geld eine Fahrkarte für die Schiffspassage. Manche Familie hatte in Sankt Petersburg ein Arrangement getroffen und für einen Schlepper bezahlt, der sie bis in den fremden Hafen bringen, durch den Zoll lotsen und zum jüdischen Flüchtlingsheim begleiten sollte. Für andere war London noch nicht die Endstation der Reise, der Schlepper würde sie mit dem Zug bis nach Liverpool bringen, wo auf sie das Schiff nach New York wartete.
    Wenn sie dann endlich ankamen, ohne Englischkenntnisse und ohne Geld, erwartete sie ein Leben in Armut und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen.
    Tausende und Abertausende kamen in den darauffolgenden Jahren und jeder von ihnen hatte eine Geschichte zu erzählen. Doch so bewegend auch manches Flüchtlingsschicksal gewesen sein mag, uns interessiert hier die Geschichte der Sally Lockhart und deshalb folgen wir nun dem schwindsüchtigen jungen Mann mit dem roten Bart.
    Er war kein Russe, sondern Deutscher und hieß Jakob Liebermann. Von Beruf war er Journalist und aus Überzeugung Sozialist. Er hatte Berlin gerade noch rechtzeitig verlassen können, sonst hätte ihn die Polizei verhaftet – zumindest glaubte er das. Und in der Tat wusste die Polizei über seine politischen Umtriebe genauestens Bescheid und war über seine Abreise nicht unglücklich. Im Berlin der Bismarckzeit wurden Juden toleriert, solange sie unter ihresgleichen blieben und Geschäfte machten, bei denen der Staat Steuern kassierte. Aber bei den Sozialisten hörte die Toleranz auf. Liebermann hatte Dutzende Artikel in sozialistischen Blättern anderer deutscher Städte geschrieben und sich auch schon als Redner in der Öffentlichkeit versucht, obgleich er dabei mit schrecklichem Lampenfieber zu kämpfen hatte. Mit einem Artikel über die Rolle von Bismarcks Privatbankier bei der Verabschiedung diverser antiliberaler Beschlüsse im deutschen Parlament war er dann zu weit gegangen. Man hatte ihm einen Wink gegeben, es sei für ihn ratsamer, außer Landes zu gehen.
    Das tat er dann auch. Auf einer seiner Reisen hatte er einen Auftrag von dem Mann erhalten, mit dem er sich nun treffen sollte. Deshalb schnallte er sich seinen Rucksack auf den Rücken, schlug den Kragen hoch, drückte den Hut in die Stirn und marschierte, immer wieder im Schein der Straßenlaternen einen Blick auf eine zerknitterte Karte werfend, in Richtung Soho.
     
    Ein Raum in einem Kellergeschoss: warm, trocken und gut beleuchtet, darin eine Ansammlung von schlichten Stühlen und Bänken, an den Wänden Bücherregale. Am einen Ende ein grob gezimmertes Podium mit einem Tisch und zwei Stühlen. Eine Reihe Fenster entlang der einen Wand, durch die man die Füße der Passanten hätte sehen können, wenn es draußen heller und wenn die Fensterscheibe außen nicht so schmutzig und von innen nicht so mit Dampf beschlagen gewesen wäre.
    Zu dieser Stunde wurde im Saal in vier Sprachen heftig diskutiert – auf Englisch, Polnisch, Deutsch und Jiddisch. Der Sprecher auf dem Podium, ein leicht reizbarer Mann im Gehrock, schlug mit der Faust auf den Tisch und ereiferte sich auf Jiddisch. Die anderen Sprachen kamen aus dem Saal, wo dreißig oder noch mehr Männer zuhörten, dazwischenriefen, diskutierten, rauchten oder auch Schach spielten.
    Der Leidenschaftlichkeit nach zu urteilen, mit der hier diskutiert wurde, hätte wohl jeder einen Anarchistenzirkel vermutet, der sich nicht darauf einigen konnte, wie viel Sprengstoff die neueste Höllenmaschine enthalten sollte. In Wirklichkeit waren sie ganz anders gesonnen und verachteten anarchistische Bombenleger. Was hier stattfand, war eine Versammlung der Liga der Sozialdemokratischen Vereine, und worüber diskutiert wurde, war die Frage, ob die neue Zeitung, deren Gründung anstand, in Jiddisch, Deutsch, Polnisch oder Russisch erscheinen sollte. Allgemein hieß es, dass es für jede dieser Sprachen genügend Immigranten in London gab, ganz zu schweigen von den jede Woche neu hinzukommenden. Argumente gab es zu Gunsten jeder Sprache und jedes war schon des Öfteren mit mehr oder weniger Geschick vorgebracht worden, doch keines konnte wirklich überzeugen. Würde die Diskussion in einem Patt enden?
    Schließlich ging ein Raunen durch die Menge: »Fragt doch Goldberg. Mal sehen, was er dazu sagt. Warum fragen wir nicht Goldberg? Es lohnt sich allemal, seine Meinung zu hören. Wir hätten ihn schon längst fragen sollen …«
    Und schon bald hatte sich
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