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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen
Autoren: Philip Pullman
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Hand zog es sein noch ganz verschlafenes, etwa dreijähriges Geschwisterchen, während seine kopftuchtragende Mutter ein Baby an der Brust trug und noch ein dickes Bündel aus Segeltuch mitschleppte. Ein alter Mann mit einem angeschwollenen Bein humpelte mühsam auf Krücken vorwärts. Eine alte Frau, die nicht mehr gehen konnte, wurde von zwei Männern mittleren Alters, vielleicht ihre Söhne, von Bord getragen. Manche Gesichter hoben sich von der Menge ab: eine junge Frau mit wunderschönen dunklen Augen; ein dünner Mann, der einen verschlagenen Eindruck machte; ein hohläugiges krankes Kind, eine muntere Matrone, die mit ihrem Lachen alle um sich herum ansteckte; ein junger Mann mit rotem Bart und flackernden Augen, dessen hohle Wangen auf Schwindsucht hindeuteten; ein Greis in zerschlissenem Gehrock und speckigem Pelz, mit weißen Schläfenlocken und langem weißem Bart, aus dem das allwissende Gesicht eines sanften Heiligen hervorschaute; ein scharf beobachtender, glatt rasierter Opportunist mit schwarzem Hut und pelzbesetztem Mantel.
    Die Schauerleute sahen zu, wie sie sich die dunkle Kaistraße auf das Tor zubewegten, wo ein uniformierter Beamter im Licht der Gaslaterne stand und ihnen den Durchgang versperrte. Er bemühte sich, den Vorderen etwas zu erklären.
    »Adressen? Haben Sie Adressen, wo Sie hingehen können? So etwas brauchen Sie. Einen Zettel mit Name und Anschrift. Haben Sie mich verstanden?«
    Der dünne Mann im zerschlissenen Mantel, dessen blasse Frau ein kleines Kind auf dem Arm trug und ein anderes an der Hand hielt, kramte schließlich einen Zettel hervor.
    »Fashion Street«, las der Beamte. »Gut. Die Dock Street geradeaus, unter der Eisenbahnbrücke hindurch und dann nach etwa einer halben Meile rechts ab. So, der Nächste!«
    Nach einem kurzen Blick auf die vorgezeigten Adressen ließ er sie durch das Tor und dirigierte sie in die Stadt. Etwa ein Dutzend Leute wartete draußen vor dem Tor und hielt erwartungsvoll und ängstlich zugleich nach den Ankommenden Ausschau. Diejenigen, die keine Adresse vorweisen konnten, wurden an das Heim für jüdische Flüchtlinge in der Leman Street verwiesen.
    Unter den Passagieren waren auch zwei allein reisende Mädchen, die durch ihre Nervosität einer Frau im Pelzmantel auffielen. Als sie unsicher durch das Tor gingen, nickte sie ihnen zu, legte ihnen freundlich die Hand auf den Arm und sprach sie auf Jiddisch an. Nach und nach passierten die Ankömmlinge das Tor und verschwanden in jenem großen Sammelbecken für Einwanderer, dem Londoner East End.
     
    Szenen wie diese waren im Londoner Hafen noch immer ungewöhnlich, daher wussten viele Schauerleute noch nicht, woher die Immigranten kamen. Anlass für die Flucht in den Westen waren die 1881 beginnenden Pogrome in Russland, brutale Ausschreitungen, die sich gegen Juden richteten.
    Die erste Familie in der Warteschlange kam aus Kiew. Der Mann war Tabakhändler. Sein Laden war verwüstet, die Ware unter dem Gejohle der Menge auf die Straße geworfen worden, während russische Soldaten tatenlos zugeschaut hatten. Der alte Mann mit dem geschwollenen Bein war Schneider, ebenfalls aus Kiew; der lärmende Mob hatte sein Haus geplündert, seine Frau in die Gosse gestoßen und ihn selbst unter Gejohle durch die Straßen getrieben; der alte Mann mit den Schläfenlocken war ein Talmudgelehrter aus Berditschew. Alle seine Bücher hatte man zerrissen und vor seinen Augen verbrannt. Als er versucht hatte einige davon zu retten, war ein Kosake mit blankgezogenem Säbel hinzugestoßen und hatte ihn daran gehindert.
    Immer mehr Menschen machten sich auf den Weg in den Westen, Einzelne und ganze Familien, nur mit wenigen Habseligkeiten im Gepäck.
    Manche hatten den Brief eines Cousins aus London, eines Bruders aus Amerika oder einer Schwester aus Hull als einzige Gewähr, bei der Ankunft einen Unterschlupf zu finden. Andere trugen nichts als eine vage Hoffnung. Viele waren überhaupt nur mitgegangen, weil jemand anderes, ein Freund oder ein Nachbar oder der Freund eines Freundes, einen solchen Brief besaß, vielleicht sogar mit etwas Geld darin. Sie ließen sich von der Warnung des britischen Konsulats nicht abschrecken, es gäbe in England schon genug Arbeitslose, daher sei es für sie allemal besser, in Russland Not zu leiden, als in London zu verhungern.
    So strömten sie in Moskau und Sankt Petersburg zu den Bahnhöfen, stiegen in die Züge nach Polen oder Österreich-Ungarn und kamen in den Häfen von Libau,
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