Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Teufel von New York

Der Teufel von New York

Titel: Der Teufel von New York
Autoren: Lyndsay Faye
Vom Netzwerk:
Wand ihres Schlafzimmers gebohrt hatte. Bislang hatte noch keiner der Jungen und keines der Mädchen einen gefunden, aber das waren so die Dinge, die die tun würden. Und in jener Nacht fühlte sich jeder Luftzug an, als hauche einem jemand seinen Atem auf die Haut, es verlangsamte alle Bewegungen zu träge stockenden Anläufen.
    Sie entkam durch ihr Zimmerfenster, indem sie drei gestohlene Damenstrümpfe zusammenknotete und an der untersten Verstrebung des Eisengitters festmachte. Sie stellte sich hin und hielt das Nachthemd von ihrem Körper ab. Es war klatschnass, und von dem Stoff, der ihr am Leib klebte, bekam sie eine Gänsehaut. Sie umklammerte die Strümpfe, sprang blindlings aus dem Fenster, hinein in die geblähte, pulsierende Augustluft, und rutschte das behelfsmäßige Seil hinunter, bis sie auf einem leeren Bierfass landete.
    Das Mädchen lief aus der Greene Street in die Prince Street, ehe sie zum wilden Strom des Broadway kam. Da sie nur ein Nachthemd trug, war ihr die Dunkelheit willkommen, sie war wie eine Rettungsleine. Um zehn Uhr nachts wirkt alles auf demBroadway verschwommen. Sie kämpfte sich durch einen reißenden Strom aus Moiréseide. Lässige Herren in doppelreihigen schwarzen Samtwesten drängten in Etablissements, die vom Boden bis zur Decke mit Spiegeln ausgekleidet waren. Hafenarbeiter, Politiker, Kaufleute, eine Gruppe von Zeitungsjungen mit erloschenen Zigarren zwischen den rosigen Lippen. Tausende wachsamer Augenpaare überall. Tausend Möglichkeiten, erwischt zu werden. Und die Sonne war untergegangen, so dass jede Straßenecke von gefallenen Schwestern heimgesucht wurde. Huren mit kalkweiß gepudertem Busen, entsetzlich bleich unter ihrem Rouge, standen zu fünfen oder sechsen zusammen, in Trauben, die sich durch das gemeinsame Bordell ergaben oder durch die Tatsache, dass die einen Diamanten trugen, während die anderen sich nur vergilbte, gesprungene Strassimitate leisten konnten.
    Das kleine Mädchen konnte sogar bei den wohlhabendsten und gesündesten Frauen sofort erkennen, ob sie Straßenläuferinnen waren, konnte auf Anhieb die Damen von den Dirnen unterscheiden.
    Sobald sie zwischen den Karren und Kutschen eine Lücke erspähte, kam sie wie ein Nachtfalter aus dem Schatten geflattert. Sie wünschte sich ganz fest, sie wäre unsichtbar, und huschte über die breite Durchgangsstraße Richtung Osten. Ihre nackten Füße flogen über den glitschigen, teerartigen Dreck auf dem Kopfsteinpflaster, dann stolperte sie fast über einen halb abgenagten Maiskolben.
    Ihr Herz tat in jäher Panik einen Sprung. Sie würde hinfallen – man würde sie sehen und alles wäre vorbei.
    Hatten sie das andere Kind langsam oder schnell getötet?
    Aber sie fiel nicht hin. Die Kutschenlichter, die sich in vielen Fensterscheiben spiegelten, hatte sie hinter sich gelassen, und sie rannte weiter. Nur ein Kleinmädchenkeuchen und ein leiser Schreckensschrei markierten ihren Weg.
    Niemand folgte ihr. Aber das konnte man wirklich keinem zur Last legen, nicht in einer so großen Stadt. Es war nur die Fühllosigkeit von vierhunderttausend Menschen, verschmolzen zu einemeinzigen schwarzblauen Meer aus Gleichgültigkeit. Und genau dazu sind wir Träger des Kupfersterns da, denke ich – wir sind die wenigen, die stehenbleiben und genau hinschauen.
    Später erzählte sie, alles sei ihr vorgekommen wie schlecht gemalte Bilder – krude und zweidimensional, die Backsteinbauten an den Rändern wie Wasserfarben zerfließend. Ich kenne diesen Zustand selbst, es ist, als sei man gar nicht da. Sie erinnerte sich noch an eine Ratte, die an einem Stück Ochsenschwanz nagte, das auf dem Pflaster lag – dann an nichts mehr. Sterne im Sommernachtshimmel. Das leise Rattern des Omnibusses von New York nach Harlem, der auf stählernen Schienen vorbeirollte, die Flanken der beiden erhitzten Pferde, nass glänzend im Gaslicht. Ein Passagier mit einem Zylinderhut, der ausdruckslos auf den eben zurückgelegten Weg starrte, seine Uhr baumelte an ihrer Kette von seinen Fingerspitzen. Die offene Tür zu einem Tischlerladen, der voller Sägespäne war und aus dem sich halbfertige Möbel und entbeinte Stühle auf die Straße ergossen, so durcheinander wie die Gedanken eines kleinen Mädchens.
    Dann wieder eine Weile klebrige Stille, während der sie nichts mehr sah. Voll Widerwillen zupfte sie noch einmal den langsam immer steifer werdenden Stoff von ihrer Haut.
    Das Mädchen bog scharf in die Walker Street ein und lief an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher