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Der Teufel von New York

Der Teufel von New York

Titel: Der Teufel von New York
Autoren: Lyndsay Faye
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tue, dann würde der Absender das herausfinden und dann würde man ihre Leiche den Schweinen auf der Straße zum Fraß vorwerfen. Ich fragte sie, woher sie denn gekommen sei, und sie deutete auf einen Krämerladen ein paar Häuser weiter. Vor dem Eingang stand ein Mann, der uns schweigend und mit ernstem Blick unter der Krempe seines Strohhutes hervor beobachtete.
    Ich achtete nicht weiter auf ihn. Ich dankte der zerlumpten Frau, steckte das Päckchen ein, das sie mir überbracht hatte, und machte mich zu Fuß auf den Weg in die Pine Street.
    Doch ich kam nie dort an. Als ich an den einfachen Backsteinhäusern mit den weißen Fenstersimsen vorbeiging und zum dritten Mal in Folge zusah, wie das Morgenlicht sich dick wie Butter über die Stadt ergoss, sah ich Mercy in die andere Richtung gehen. Das heißt, sie kam mir entgegen.
    Mercy trug ein taubengraues Kleid, das ihr nicht besonders gut passte. Wahrscheinlich aus dem Haufen der gespendeten, zum Verkauf bestimmten Kleider aus der Kirche, denn es war sehr sauber und ordentlich genäht. Der glockenförmige Rock saß ein wenig locker um die Taille, und der breite Ausschnitt hing noch weiter von einer Schulter, als ihre Kleider das ohnehin immer tun. Sie hatte sich für ihr Haar nur halb so viel Zeit genommen wie sonst, und ich konnte schon von weitem sehen, dass ihre Lippen rissig und ihre Hände an mehreren Stellen bandagiert waren.
    Als wir uns auf der Mitte des Gehsteigs in der Pearl Street gegenüberstanden, dachte ich: So sieht Mercy aus, in einem grauen Kleid aus zweiter Hand, an dem Tag, an dem du ihr zum letzten Mal begegnest .
    »Mr. Wilde«, sagte sie.
    »Guten Morgen«, sagte ich.
    Das war schon mal ein Anfang.
    »Mein Vater ist tot«, murmelte sie. »Sie waren dort, Sie ... Sie wissen Bescheid, nehme ich an.«
    »Ja.«
    »Der Polizist war freundlich, aber er ließ mich meinen Vater nicht sehen. Und er sagte ermordet . Aber so war es nicht. Ich glaube ihm nicht.«
    »Es tut mir so leid.«
    »Das sollte es nicht. Sie haben mir ja geholfen. Sie wollten nicht, dass ich – Sie wollten nicht, dass bekannt wird, was wirklich geschehen ist.«
    Sie hatte geweint, aber nicht lange. Ihre Augenränder waren nur rosa, sie glänzten noch ein wenig, und das wütende Rot, das die Augäpfel von dem erzwungenen Eisbad davongetragen hatten, war schon verblasst. Die Iris war sehr blau, ihr Haar sehr dick und sehr dunkel. Mercy hatte mir noch keine einzige Frage gestellt, und mir wurde plötzlich klar, warum. Was ihr zugestoßen war, diese schrecklichen Wahrheiten, die sie erfahren hatte, diese aufgedeckten Geheimnisse, die einen verbrannten, wenn man daran rührte ... an ihnen konnte nichts besser werden, wenn man noch mehr darüber erfuhr. Ich fragte mich, ob Mercy mir jemals wieder eine Frage stellen würde.
    »Die vergrabenen Kinder waren Autopsieleichen«, erzählte ich ihr leise. »Sie wurden nicht geschändet, Dr. Palsgrave hatte sie für seine wissenschaftlichen Untersuchungen gebraucht, nachdem sie gestorben waren. Es ist kompliziert, aber doch ein besserer Ausgang, als wir alle geglaubt haben. Ich habe ihn nicht festgenommen, und das werde ich auch nicht tun. Aber mir war daran gelegen, dass Sie wissen, dass jetzt alles ... vorbei ist.«
    Marcas und die Kirchentür erwähnte ich nicht. Dieses Bild war schon auf ihre Netzhaut tätowiert. Sie starrte mich wortlos an, so verwirrt und verletzt, wie ein Mensch nur sein kann.
    »Ich habe ein Geschenk für Sie.« Ich streckte ihr den kleinen Beutel hin.
    Mercy berührte mit den Zähnen ihre Unterlippe. Aber sie stellte keine Frage.
    Wer hätte gedacht, dass dies das Schlimmste ist, was mir passieren könnte: dass Mercy die Fragezeichen ausgehen, dachte ich, und dann zwang ich mich, mit dem Denken aufzuhören.
    »Das sind dreihundert Dollar in bar. Das Geld kommt von einem ... sehr geeigneten Spender, noch dazu einem, gegenüber dem Sie sich nie verpflichtet fühlen müssen. Es ist nicht mein Geld oder Vals oder das von sonst jemandem, an den Sie jetzt denken, sondern es ... es ist Ihrs, und Sie gehen nach London. Dreihundert dürften reichen, um sich dort niederzulassen, obwohl ich ... Es tut mir leid, dass Ihre Kleider ruiniert sind, oder kann man Petroleum aus Kleidern wieder herauswaschen?«
    Ich hielt inne.
    Als sie die Börse öffnete und die Münzen sah, blieb Mercys Mund offen stehen. »Ich verstehe nicht, wieso das meins sein sollte.«
    »Vertrauen Sie mir«, beharrte ich. »Ich weiß, dass ich im Moment in Ihren
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