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Der Teufel in Frankreich

Der Teufel in Frankreich

Titel: Der Teufel in Frankreich
Autoren: Lion Feuchtwanger
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war erbärmlich. Nicht nur mein jetziger Zustand, nicht nur meine Hilflosigkeit, nicht nur das stumpfe, niedrige Leben des Konzentrationslagers, nicht nur der Zwang, immer mit Menschen zusammen und nie allein zu sein, nein, das ganze Leben, das ich bisher geführt hatte, die ganzen sechsundfünfzig Jahre, die mir, wenn ich gesund und bei voller Vernunft war, gut und erfüllt vorgekommen waren, schienen mir jetzt sinnlos, leer, schmutzig.
    Verse aus dem Nachtgebet kamen mir, das ich als Junge viele Jahre hindurch Abend für Abend hatte plappern müssen, beschwörende, hebräische Verse gegen das Grauen der Nacht: »Siehe, da ist Salomons Lager. Drei Reihen von Helden stehen ringsum, von den Helden Israels. Alle halten sie Schwerter, kampfgeübt sind sie. Jeder hat sein Schwert an seiner Hüfte, den König zu schützen gegen die Schrecken der Nacht.« Ich plapperte die Verse vor mich hin. Sie kamen und gin gen und wurden deutsche Verse, und sie hießen: »Wo wird einst des Wandermüden letzte Ruhestätte sein? Unter Palmen in dem Süden, Unter … an dem Rhein?« Es fiel mir durchaus nicht ein, was das für trochäische Bäume sein könnten an dem Rhein: Eichen, Birken, Buchen? Nichts paßte recht, und es quälte mich, daß ich den rechten Baum nicht finden konnte.
    Ich sagte mir: wenn ich den rechten Baum und das rechte Wort finde, dann komme ich durch. Wenn ich es nicht finde, dann muß ich sterben.
    Ich fand den Baum und das Wort nicht, und eigentlich war ich ganz einverstanden, daß ich also jetzt sterben würde. Nur schien es mir ungerecht, daß ich hier sterben sollte, in diesem schmutzigen Lager und unter soviel Menschen, und daß das Schicksal mir nicht einmal vergönnte, allein zu sterben und in Ruhe.
    Eine ungeheure Sehnsucht überkam mich nach einem weißen, reinlichen Krankenzimmer. Ich erinnerte mich früherer Krankheiten, gewisser Operationen, und was für eine Tröstung in all der Pein es gewesen war, daß ich mich behütet wußte, daß ich kundige Ärzte um mich wußte, die Sorge meiner Frau, weißgekleidete, behutsame Krankenschwestern. Es war vor allem dieses Weiße, Reinliche nach dem ich mich schmerzhaft sehnte.
    Dann trieb es mich von neuem hoch, von neuem mußte ich hinaus in die feuchte, heiße, dampfende Nacht. Viel hätte ich darum gegeben, wenn ich mich gleich hätte hinhocken können, jetzt, aber das durfte ich nicht, das war nicht erlaubt. Die andern, wenn sie einen so inmitten der Zelte betrafen, verprügelten einen, und wenn man noch so krank war; mit Recht, auch so war die Ansteckungsgefahr groß genug. Ich mußte mich also weiter hinausschleppen. Der Weg zur Latrine war weit, fünf Minuten weit, fünf Stunden weit, fünf Jahre weit. Wankend, mit zitternden Knien, immer wieder stehenbleibend und verschnaufend, ging ich diesen Weg. »Ein falscher Grund zum Abtritt führt«, sagte ich vor mich hin, grimmig, trotzig. Dann endlich war ich halbwegs angelangt, nicht mehr im Bereich der Zelte, doch noch lange nicht an der Latrine. Aber nun ging es einfach nicht länger, ich hockte nieder. Sofort, in dicken Schwärmen, überfielen Moskitos die entblößten Schenkel. Ich hatte nicht die Kraft, sie abzuwehren. Schweißüberdeckt hockte ich, und schließlich klappte ich zusammen, jämmerlich, in Blut und Kot.
    Ich schleppte mich zurück. Ein Zelt schaute aus wie das andere, Schnarchen und Stöhnen kam aus allen, und Moskitos waren um alle, und Zelt 67 war da und 59: aber wo ist Zelt 54? Wo ist mein Zelt?
    Und dann wieder lag ich und freute mich auf den Tod. Es war ein unnützes Leben gewesen. Oft, solang ich gesund gewesen war und bei voller Vernunft, hatte ich mich in Debatten eingelassen, ob es Sinn habe, Bücher zu schreiben. Was bewirkte man durch Schreiben, was änderte man, was machte man besser? Nihilistische Literaten hatten die These verfochten, Schreiben, das sei ein Zeitvertreib wie jeder andere, ein leeres, subjektives Vergnügen wie Sport oder Saufen oder Huren oder was immer. Ich hatte das nicht wahrhaben wollen. Ich hatte erklärt, ein guter Satz, zur rechten Stunde gegeben und empfangen, könne das Leben des Empfangenden für immer bestimmen. Ich hatte wirklich solche Erfahrungen gemacht, an mir und an andern. Jetzt aber, in dieser bittern Nacht, vergaß ich sie, und grimmig recht gab ich denjenigen, die alle Schreiberei und unser ganzes Leben und alles Große, was je gedacht und getan wurde, für Dreck erklärten und für Unsinn.
    Dann wurde ich sentimental. Ach, wenn ich nur einmal
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