Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman
Autoren: Stephen King und Peter Straub
Vom Netzwerk:
Eine Krypta, in der sie sterben würde.
    Wenn Sloat für das verantwortlich war, was mit dem Alhambra geschehen war, dann hatte er verdammt gute Arbeit geleistet. Alle waren fort. Alle. Keine Mädchen mehr, die ihre quietschenden Wagen durch die Gänge schoben. Kein pfeifender Hausmeister mehr. Kein maulfauler Tagesportier. Sloat hatte sie alle in die Tasche gesteckt und fortgeschleppt.
    Vor vier Tagen – als sie im Zimmer nicht einmal mehr so viel fand, um ihren Vogelappetit zu stillen – war sie aus dem Bett gestiegen und hatte sich langsam den Korridor entlang bis zum Fahrstuhl geschleppt. Sie hatte einen Stuhl auf diese Expedition mitgenommen, auf den sie sich abwechselnd stützte und mit erschöpft herabhängendem Kopf niederließ. Sie brauchte vierzig Minuten, um die zwölf Meter Korridor bis zur Fahrstuhltür hinter sich zu bringen.
    Sie hatte mehrmals auf den Knopf gedrückt, um den Fahrstuhl herbeizuholen, aber er kam nicht. Die Knöpfe wurden nicht einmal hell.
    »Verdammte Scheiße«, hatte Lily heiser gemurmelt und sich dann sechs Meter weiter bis zum Treppenabsatz geschleppt.
    »He!« hatte sie hinuntergerufen und war dann, über die Stuhllehne gebeugt, von einem Hustenanfall geschüttelt worden.
    Vielleicht haben sie mich nicht rufen hören, aber sie müssen doch hören, wie ich alles heraushuste, was von meinen Lungen noch übrig ist, dachte sie.
    Aber niemand kam.
    Sie rief wieder, noch einmal, hatte einen weiteren Hustenanfall, dann machte sie sich auf den Rückweg durch den Korridor, der ihr so lang vorkam wie ein Stück Schnellstraße in Nebraska an einem klaren Tag. Die Treppe hinabzusteigen, wagte sie nicht. Sie würde nie wieder heraufkommen können. Außerdem war da unten niemand; nicht in der Halle, nicht im Saddle of Lamb, nicht in der Kaffeestube, nirgends. Auch die Telefone waren außer Betrieb. Zumindest das Telefon in ihrem Zimmer war außer Betrieb, und sie hatte auch sonst in diesem alten Mausoleum kein einziges Mal ein Telefon läuten hören. Es lohnte nicht. Sie wollte nicht in der Halle erfrieren.
    »Jacko«, murmelte sie, »wo zum Teufel steckst …«
    Dann begann sie wieder zu husten, und diesmal war es wirklich schlimm. Sie kippte ohnmächtig zur Seite und zog dabei den hässlichen Stuhl mit sich, so dass er auf ihr zu liegen kam; so lag sie fast eine Stunde auf dem kalten Fußboden, und das war wahrscheinlich die Zeit, in der die Lungenentzündung ihren Einzug in ihren rasch zerfallenden Körper hielt. Hallo, großes K. Ich bin gerade hier eingezogen. Du kannst mich großes L nennen. Los, galoppieren wir um die Wette!
    Irgendwie gelangte sie wieder in ihr Zimmer, und seitdem hatte sie in einer steigenden Fieberspirale existiert, hatte gehört, wie ihr Atem lauter und lauter wurde, bis ihr fieberndes Hirn ihr vorgaukelte, ihre Lungen wären zwei organische Aquarien mit unter Wasser rasselnden Ketten. Und dennoch hielt sie aus – hielt aus, weil ein Teil ihres Verstandes mit verrückter, nachlassender Gewissheit darauf bestand, dass Jack auf dem Rückweg von dort war, wo immer er gewesen sein mochte.
     
    7
     
    Ihr Koma hatte begonnen wie eine kleine Vertiefung im Sand – eine Vertiefung, die zu wirbeln beginnt wie ein Strudel. Das Rasseln der Unterwasserketten in ihrer Brust verwandelte sich in ein langes, trockenes Ausatmen.
    Dann hatte irgendetwas sie aus dieser immer tiefer werdenden Spirale herausgeholt und sie veranlasst, in der kalten Dunkelheit nach dem Lichtschalter zu tasten. Sie war aufgestanden. Sie hatte nicht mehr die Kraft, das zu tun; jeder Arzt hätte es für unmöglich gehalten. Dennoch tat sie es. Sie fiel zweimal zurück, dann kam sie endlich auf die Beine, mit vor Anstrengung verzerrtem Mund. Sie tastete nach dem Stuhl, fand ihn und begann, quer durch den Raum zum Fenster hinüberzutaumeln.
    Lily Cavanaugh, die Königin des B-Films, gab es nicht mehr. Sie war ein wandelnder Schrecken, vom Krebs zerfressen, vom steigenden Fieber verbrannt.
    Sie erreichte das Fenster und blickte hinaus.
    Entdeckte unten eine menschliche Gestalt – und eine leuchtende Kugel.
    »Jack!« versuchte sie zu rufen. Es kam nur ein kiesiges Flüstern. Sie hob eine Hand, versuchte zu winken. Ein Schwächeanfall überkam sie. Sie klammerte sich an die Fensterbank.
    »Jack!«
    Plötzlich verstrahlte der leuchtende Ball in der Hand der Gestalt ein helles Licht, ließ das Gesicht deutlich hervortreten, und es war Jacks Gesicht, es war Jack, oh, Gott sei Dank, es war Jack. Jack war
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher