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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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da.
    Die Gestalt begann zu laufen.
    Jack!
    Ihre eingesunkenen, sterbenden Augen wurden noch glänzender. Tränen rannen ihr über die gelben, fieberheißen Wangen.
     
    8
     
    »Mom!«
    Jack rannte durch die Halle, bemerkte, dass die altmodische Telefonvermittlung schwarz und verschmort war wie nach einem Kurzschluss, und vergaß es sofort wieder. Er hatte sie gesehen, und sie sah grauenhaft aus – wie die Silhouette einer an einem Fenster aufgestellten Vogelscheuche.
    »Mom!«
    Er jagte die Treppe hinauf, nahm zuerst zwei, dann drei Stufen auf einmal, der Talisman verschoss einen Strahl rosaroten Lichts und wurde dann dunkel in seinen Händen.
    »Mom!«
    Den Gang entlang zu ihrem Zimmer, mit fliegenden Füßen, und nun endlich hörte er ihre Stimme – keinen munteren Zuruf, kein leicht kehliges Lachen; es war das staubige Krächzen einer Kreatur am Rande des Todes.
    »Jacky?«
    »Mom!«
    Er stürzte ins Zimmer.
    9
     
    Unten im Wagen starrte ein nervöser Richard Sloat durch das polarisierte Fenster empor. Was tat er hier, was tat Jack da oben? Richards Augen schmerzten. Er versuchte angestrengt, im Abenddunkel die oberen Fenster zu erkennen. Während er sich zur Seite beugte und hinaufstarrte, flammte in mehreren der oberen Fenster ein weißer Lichtstrahl auf und übergoss die gesamte Front des Hotels sekundenlang mit blendender Helligkeit. Richard steckte den Kopf zwischen die Knie und stöhnte.
     
    10
     
    Sie lag unter dem Fenster auf dem Fußboden – dort entdeckte er sie endlich. Das zerwühlte, irgendwie staubig aussehende Bett war leer, das ganze Schlafzimmer, so unordentlich wie ein Kinderzimmer, schien leer zu sein … Jacks Magen verkrampfte sich, Worte blieben in seiner Kehle stecken. Dann verschoss der Talisman wieder sein grandioses Licht und tauchte sekundenlang alles im Raum in reines, farbloses Weiß. Sie krächzte noch einmal »Jacky?«, und er rief »MOM!«, als er sie, zusammengeknüllt wie ein Bonbonpapier, unter dem Fenster entdeckte. Ihr Haar lag dünn und strähnig auf dem schmutzigen Teppich. Ihre Hände glichen winzigen Tierklauen, bleich und scharrend. »Oh, Jesus, Mom, o Gott, heiliger Strohsack«, stammelte er und schaffte es irgendwie, den Raum zu durchqueren, ohne einen Schritt zu tun, er schwebte, er schwamm durch Lilys unordentliches, eiskaltes Schlafzimmer, ein Augenblick, der ihm so scharf erschien wie ein Bild auf einer photographischen Platte. Ihr strähniges Haar auf dem schmutzigen Teppich, die kleinen, knotigen Hände.
    Er atmete den durchdringenden Geruch der Krankheit, des nahen Todes. Jack war kein Arzt und wusste kaum etwas von dem, was in Lilys Körper vorging. Aber eines wusste er – seine Mutter starb, ihr Leben versickerte in unsichtbaren Spalten, und es blieb nur noch sehr wenig Zeit. Sie hatte zweimal seinen Namen ausgesprochen, und das war so ziemlich alles, was das restliche bisschen Leben in ihr zuließ. Weinend legte er eine Hand auf ihren bewusstlosen Kopf und setzte den Talisman neben ihr auf den Fußboden.
    Ihr Haar fühlte sich an, als wäre es voll Sand, ihr Kopf war glühendheiß. »O Mom, Mom«, sagte er und schob die Hände unter sie. Ihr Gesicht konnte er immer noch nicht sehen. Unter dem dünnen Nachthemd fühlte sich ihre Hüfte so heiß an wie eine Ofentür. Eine verrückte Sekunde lang glich sie einem schmutzigen kleinen Kind, krank und einsam. Er hob sie hoch, und es war, als höbe man ein Bündel Kleider. Er stöhnte. Ihre Arme hingen kraftlos herab.
    (Richard)
    Richard hatte sich nicht so schlimm angefühlt, nicht einmal, als er ihn in das vergiftete Point Venuti hinuntertrug und glaubte, nur eine leere Hülle auf dem Rücken zu haben. Zu dieser Zeit war von Richard nicht viel mehr übrig gewesen als Quaddeln und Ausschlag, und auch er wurde von Fieber verzehrt. Aber jetzt wurde Jack mit schlagartigem Entsetzen klar, dass in Richard mehr Leben, mehr Substanz vorhanden gewesen war als jetzt in seiner Mutter. Immerhin, sie hatte seinen Namen ausgesprochen.
    (und Richard wäre fast gestorben)
    Sie hatte seinen Namen ausgesprochen. Daran klammerte er sich. Sie hatte es geschafft, ans Fenster zu kommen. Sie hatte seinen Namen ausgesprochen. Es war unmöglich, undenkbar, absurd, sich vorzustellen, dass sie sterben würde. Einer ihrer Arme schwankte vor ihm wie ein Schilfrohr … der Ehering war ihr vom Finger geglitten. Er weinte stetig, unaufhörlich, unbewußt. »Okay, Mom«, sagte er. »Okay, jetzt ist es okay, es ist okay.«
    Von dem schlaffen
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