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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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ging zum Archiv, sie humpelte. Wie Ödipus, fuhr es ihr durch den Sinn. Sie blätterte im Orakelbuch, suchte, alle vom Heiligtum herausgegebenen Orakel waren hier verzeich-net. Sie stieß auf ein Orakel, verkündet einem gewissen Laios, König von Theben: Werde ihm ein Sohn geboren, werde dieser ihn ermorden.
    »Ein Abschreckorakel«, überlegte die Pythia, »da muß meine Vorgängerin dahinterstecken, Krobyle IV«, Pannychis kannte deren Nachgiebigkeit gegenüber den Wünschen der Oberpriester. Sie forschte in der Buchhaltung und fand einen Beleg über fünftausend Talente, gezahlt von Menoikeus, dem Drachenmann, dem Schwiegervater des Königs von Theben, Laios, mit der flüchtigen Anmerkung: »Für ein Orakel hinsichtlich Laios’
    Sohn, formuliert von Tiresias.« Die Pythia schloß die Augen, blind sein wie Ödipus war das beste. Sie saß im Archiv am Lesetisch und dachte nach. Ihr wurde klar: War ihr Orakel ein grotesker Zufallstreffer, so hatte einst Krobyle IV geweissagt, um Laios zu hindern, einen Sohn und damit einen Nachfolger zu zeugen; sein Schwager Kreon sollte dessen Nachfolge antreten. Das erste Orakel, das Laios bewog, Ödipus auszuset-zen, kam durch Korruption zustande, das zweite traf durch Zufall ein, und das dritte, das die Untersuchung des Falles in Gang setzte, hatte wiederum Tiresias formuliert. »Um Kreon auf den Thron Thebens zu bringen – ich bin sicher, daß er jetzt darauf sitzt«, dachte sie. »Aus lauter Nachgiebigkeit Merops gegenüber habe ich das von Tiresias formulierte Orakel geweissagt«, murmelte Pannychis wütend, »und auch noch in miserablen Jamben, ich bin noch schlechter als Krobyle IV, die orakelte wenigstens nur in Prosa.«
    Sie erhob sich vom Lesetisch und verließ das verstaubte Archiv, so lange hatte niemand mehr in ihm gestöbert, wer kümmerte sich schon darum, im Delphischen Orakel herrschte 104

    eine legere Schlamperei. Doch nun sollte ja auch das Archiv umgebaut werden, ein pompöser Neubau an die Stelle der alten Steinhütte treten, auch war schon eine Priesterschaft des Archivs geplant, um die legere durch eine stramm organisierte Schlamperei zu ersetzen.
    Die Pythia sah über die nächtlichen Bauplätze, Quader und Säulen lagen herum, es war, als blicke sie über Ruinen; einmal würden hier nur Ruinen sein. Der Himmel war eins mit Felsen und Meer, im Westen stand ein heller roter Stern über einer schwarzen Wolkenbank, böse und fremdartig. Es war ihr, als ob Tiresias herüberdrohe, Tiresias, der ihr immer wieder seine strategischen Orakel aufgezwungen hatte, auf die er als Seher so stolz war, und die doch ebenso dummes Zeug waren wie ihre eigenen Orakel, Tiresias, der noch älter war als sie, der schon gelebt hatte, als Krobyle IV die Pythia war und vor Krobyle Melitta und vor dieser Bakchis. Auf einmal, als sie über den maßlosen Bauplatz des Apollotempels humpelte, wußte die Pythia, daß es ans Sterben ging, es war auch höchste Zeit. Sie schmiß den Stock an die halbfertige Schlangensäule, auch so ein Kitschmonument, und humpelte nicht mehr. Sie betrat das Heiligtum: Sterben war feierlich. Sie war gespannt, wie denn das Sterben wohl vor sich ginge: Ihr war abenteuer-lich zumute. Sie ließ das Hauptportal offen, setzte sich auf den Dreifuß und wartete auf den Tod. Die Dämpfe, die aus der Felsspalte stiegen, hüllten sie ein, Schwaden um Schwaden, leicht rötlich, und durch ihre Schleier sah sie das grauhelle Licht der Nacht, das durch das Hauptportal drang. Sie spürte den Tod näherrücken, ihre Neugier wuchs.
    Zuerst tauchte ein finsteres, zusammengedrängtes Gesicht auf, schwarzhaarig, niedere Stirn, stumpfe Augen, ein erdiges Gesicht. Pannychis blieb ruhig, es mußte sich um einen Vorbo-ten des Todes handeln; doch plötzlich wußte sie, daß es das Gesicht des Menoikeus war, des Drachenmannes. Das dunkle Gesicht sah sie an. Es redete zu ihr oder vielmehr es schwieg, 105

    aber so, daß die Pythia den Drachenmann begriff.
    Er war ein Kleinbauer gewesen, untersetzt, er war nach Theben gezogen, hatte hart gearbeitet, als Taglöhner zuerst, dann als Vorarbeiter, endlich als Bauunternehmer, und als er den Auftrag zugeschanzt bekam, die Burg Kadmeia umzubauen, war sein Glück gemacht: Bei den Göttern, das wurde eine Burg! Daß er sein Glück nur seiner Tochter Iokaste verdanke, war übles Gerede; sicher, der König Laios hatte sie geheiratet, aber Menoikeus war nicht irgendwer, er stammte von den Drachenmännern ab, die aus dem lehmigen Boden Thebens
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