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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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und so scheußlich ging das Orakel denn auch in Erfüllung. Als ich dich damals verließ, überlegte ich: Wenn Polybos und Merope nicht meine Eltern waren, mußten es nach dem Orakel jene sein, an denen sich der Orakelspruch vollzie-hen würde. Als ich bei einem Kreuzweg einen alten, hitzigen, eitlen Mann tötete, wußte ich, schon bevor ich tötete, daß es mein Vater war, wen sonst hätte ich töten können als meinen Vater – wen ich außerdem noch tötete, das war später, ein nebensächlicher Gardeoffizier, dessen Namen ich vergessen habe.«
    »Noch jemanden hast du getötet«, warf die Pythia ein.

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    »Wen denn?« fragte Ödipus verwundert.
    »Die Sphinx«, antwortete Pannychis. Ödipus schwieg einen Augenblick, als müsse er sich erinnern, lächelte. »Die Sphinx«, sagte Ödipus, »war ein Ungeheuer mit einem Frauenkopf, einem Löwenleib, einem Schlangenschwanz, mit Adlerflügeln und mit einem läppischen Rätsel. Es stürzte sich vom Berge Phikion in die Ebene hinab, und darauf, als ich in Theben Iokaste heiratete – weißt du, Pannychis, dir sei es gesagt, du wirst bald sterben, und darum darfst Du es wissen: Ich haßte meine wirklichen Eltern mehr als etwas anderes, sie wollten mich den wilden Tieren vorwerfen, ich wußte nicht, wer sie waren, aber das Orakel Apolls erlöste mich: Mit einer heiligen Raserei stürzte ich im Engpaß zwischen Delphi und Daulis Laios vom Wagen, und wie er sich in den Zügeln verfangen hatte, peitschte ich die Rosse, daß sie meinen Vater zu Tode schleiften, und wie er verröchelte, staubverschmiert, bemerkte ich im Straßengraben seinen von meinem Speer verwundeten Wagenlenker. ›Wie hieß dein Herr?‹ fragte ich ihn. Er starrte mich an und schwieg. ›Nun?‹ herrschte ich ihn an. Er nannte mir den Namen, ich hatte den König von Theben zu Tode schleifen lassen, und dann nannte er, als ich ungeduldig weiter-fragte, den Namen der Königin von Theben. Er hatte mir den Namen meiner Eltern genannt. Es durfte keine Zeugen geben.
    Ich zog den Speer aus seiner Wunde und stieß noch einmal zu.
    Er verschied. Und als ich den Speer aus dem Leib des toten Wagenlenkers gezogen hatte, bemerkte ich, daß Laios mich ansah. Er lebte immer noch. Schweigend durchbohrte ich ihn.
    Ich wollte König von Theben werden, und die Götter wollten es so, und im Triumph beschlief ich meine Mutter, immer wieder, und pflanzte boshaft vier Kinder in ihren Bauch, weil die Götter es wollten, die Götter, die ich noch mehr hasse als meine Eltern, und jedesmal, wenn ich meine Mutter bestieg, haßte ich sie mehr als zuvor. Die Götter hatten das Ungeheuerliche beschlossen, und so sollte denn das Ungeheuerliche 111

    geschehen, und als Kreon mit dem Orakel des Apoll von Delphi zurückkehrte, die Pest werde sich erst besänftigen, wenn der Mörder des Laios gefunden sei, wußte ich endlich, warum die Götter ein so grausames Schicksal ausgeheckt hatten, wen sie zum Fraße wollten: mich, der ich ihren Willen erfüllt hatte. Im Triumph führte ich selbst den Prozeß gegen mich, im Triumph fand ich Iokaste in ihrem Gemach erhängt, und im Triumph stach ich meine Augen aus: Schenkten mir doch die Götter das größte nur denkbare Recht, die erhabenste Freiheit, jene zu hassen, die uns hervorgebracht haben, die Eltern, die Ahnen, die die Eltern hervorgebracht hatten, und darüber hinaus die Götter, die Ahnen und Eltern hervorbrach-ten, und wenn ich jetzt als blinder Bettler in Griechenland herumziehe, so nicht, um die Macht der Götter zu verherrli-chen, sondern um sie zu verhöhnen.«
    Pannychis saß auf dem Dreifuß. Sie fühlte nichts mehr. Vielleicht bin ich schon tot, dachte sie, und erst allmählich wurde ihr bewußt, daß vor ihr ein Weib in den Dämpfen stand, hell-
    äugig, mit wilden roten Haaren:
    »Ich bin Iokaste«, sagte das Weib, »ich wußte es nach der Hochzeitsnacht, Ödipus erzählte mir sein Leben. Er war doch so treuherzig und offen und, bei Apoll, wie naiv er war, wie stolz darüber, daß er dem Ratschluß der Götter entkommen konnte, indem er nicht nach Korinth zurückgekehrt und Polybos nicht erschlagen und Merope nicht geheiratet hatte, die er immer noch für seine Eltern hielt, als wäre es möglich, dem Ratschluß der Götter zu entgehen. Ich ahnte es schon vorher, daß er mein Sohn war, gleich in der ersten Nacht, kaum daß er in Theben angekommen war. Ich wußte noch gar nicht, daß Laios tot war. Ich erkannte ihn an den Narben an seinen Fersen, als er nackt neben mir lag, aber
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