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Der Sturz - Erzählungen

Der Sturz - Erzählungen

Titel: Der Sturz - Erzählungen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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lassen wir die Klatschgeschichten; mit den Kadmiden war es zu Ende, das wußte Laios bei seiner Veranlagung, und ich wollte ihm ja nur mit meinem Orakel den Hinweis geben, es sei klug, Amphitryon zu adoptieren: aber er adoptierte ihn nicht. Laios war nicht so klug, wie ich dachte.«
    Tiresias schwieg, wurde düster, finster.
    »Alle lügen«, stellte die Pythia fest.
    »Wer lügt?« fragte Tiresias, immer noch in sich versunken.
    »Die Schatten«, antwortete die Pythia, »keiner sagt die ganze Wahrheit, ausgenommen Menoikeus, aber der ist zu dumm, um zu lügen. Laios lügt und die Hure Iokaste lügt. Sogar Ödipus ist nicht ehrlich.«
    »Im großen und ganzen schon«, meinte Tiresias.
    »Möglich«, antwortete die Pythia bitter, »bloß mit der Sphinx schwindelt er. Ein Ungeheuer mit einem Frauenkopf und mit einem Löwenleib. Lächerlich.«
    Tiresias betrachtete die Pythia: »Willst du wissen, wer die Sphinx ist?« fragte er.
    »Nun?« fragte Pannychis. Der Schatten des Tiresias rückte näher, hüllte sie ein, beinahe väterlich.
    »Die Sphinx«, erzählte er, »war so schön, daß ich die Augen aufriß, als ich sie zum ersten Male sah, von ihren gezähmten Löwinnen umgeben, vor ihrem Zelt auf dem Berge Phikion bei Theben. ›Komm, Tiresias, du alter Gauner, jag deinen Knaben 117

    ins Gebüsch und setze dich zu mir‹, lachte sie. Ich war froh, daß sie es nicht vor dem Knaben sagte, sie wußte, daß ich meine Blindheit nur spielte, doch sie behielt es für sich. So saß ich denn bei ihr auf einem Fell vor dem Zelt, die Löwinnen schnurrten um uns herum. Sie hatte lange weiche weißgoldene Haare, sie war geheimnisvoll und hell, sie war einfach etwas Wahres; nur wenn sie wie Stein wurde – dann erschrak ich, Pannychis, einmal nur erlebte ich sie so: als sie mir ihr Leben erzählte. Du kennst ja die Unglücksfamilie des Pelops. Bester Hochadel. Na ja, der junge Laios hatte, kaum war er König von Theben geworden, die berühmte Hippodameia verführt, auch Hochadel. Ihr Gatte rächte sich im Stile der Familie: Pelops entmannte Laios und ließ den Winselnden laufen. Die Tochter, die Hippodameia gebar, nannte die Mutter selbst höhnisch Sphinx, die Würgerin, und weihte sie dem Hermes zur Priesterin, um sie zur ewigen Keuschheit zu verdammen, aber auch, damit Hermes, der Gott des Handels, dem Export nach Kreta und Ägypten gnädig sei, von dem die Pelopse lebten; und dabei hatte Hippodameia den Laios verführt, nicht umgekehrt, aber wie alle Aristokraten wußte auch sie das Angenehme mit dem Grausamen und das Grausame mit dem Nützlichen zu verbin-den. Warum aber die Sphinx auf dem Berge Phikion ihren Vater in Theben belagerte und jeden, der ihr Rätsel nicht lösen konnte, von ihren Löwinnen zerfleischen ließ, verriet sie mir nicht, vielleicht nur, weil sie erriet, daß ich sie im Auftrage des Laios aufgesucht hatte, um ihre Absichten zu erforschen. Sie gab mir nur den Befehl mit, Laios solle Theben mit seinem Wagenlenker Polyphontes verlassen. Laios gehorchte zu meiner Verwunderung.«
    Tiresias dachte nach: »Was dann geschah«, sagte er, »weißt du ja, Pythia: das unglückliche Zusammentreffen im Engpaß zwischen Delphi und Daulis, die Ermordung des Laios und des Polyphontes durch Ödipus und dessen Begegnung mit der Sphinx auf dem Berge Phikion. Na schön. Ödipus löste das 118

    Rätsel, und die Sphinx stürzte sich auf die Ebene hinab.«
    Tiresias schwieg.
    »Du plapperst, Alter«, sagte die Pythia, »warum erzählst du mir diese Geschichte?«
    »Sie quält mich«, sagte Tiresias. »Darf ich mich zu dir setzen? Ich friere, der kalte Trunk aus der Quelle Tilphussa verbrennt mich.«
    »Nimm den Dreifuß Glykeras«, antwortete die Pythia, und der Schatten des Tiresias setzte sich zu ihr über die Erdspalte.
    Die Dämpfe kamen dichter und rötlicher.
    »Warum quält sie Dich denn?« fragte die Pythia fast freund-schaftlich, »was ist die Geschichte der Sphinx anderes als der unbedeutende Bericht, wie das jämmerliche Geschlecht des Kadmos endete? Mit einem kastrierten König und einer zur ewigen Keuschheit verdonnerten Priesterin.«
    »Etwas stimmt nicht an dieser Geschichte«, sagte Tiresias nachdenklich.
    »Nichts stimmt daran«, antwortete die Pythia, »und es spielt auch keine Rolle, daß nichts stimmt, weil es für Ödipus keine Rolle spielt, ob Laios schwul oder kastriert war, so oder so war er nicht sein Vater. Die Geschichte der Sphinx ist vollkommen nebensächlich.«
    »Gerade das beunruhigt mich«,
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