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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy
Autoren: Hammesfahr Petra
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stieg mit ihr eine Leiter hinauf und legte sie irgendwo da oben auf ein paar Bretter. Dann holte er aus und schlug die Stundenstriche vom Zifferblatt, mit dem letzten verschwanden auch die Zeiger. Nur die schwarze Scheibe blieb übrig, wurde größer und immer größer, begann sich zu drehen. Der Braune tanzte darauf, drehte sich wie ein Wahnsinniger im Kreis, griff nach mir und riß mich mit. Ich konnte mich nicht so schnell drehen, stürzte und fiel in ein Loch, fiel tiefer und tiefer, bis ich davon erwachte. Und drei Tage später war mein Vater tot. Arbeitsunfall. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich ganz allein auf der Welt war. Bei der Beerdigung bekam ich Schreikrämpfe. Da wurde mir erst klar, daß der Braune mir ein Baugerüst gezeigt hatte, daß ich meinen Vater hätte warnen können, wenn ich nur rechtzeitig begriffen hätte. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen, ihn um Verzeihung bitten. Ich wollte ihm noch so viel sagen. Sie mußten mich mit Gewalt vom Sarg wegziehen. Das war im Sommer vor zweiundzwanzig Jahren. Im Herbst des gleichen Jahres, nur knapp drei Monate nach Vaters Tod, hatte ich den Traum wieder. Da bekam ich auch zum erstenmal eine Tracht Prügel dafür, weil ich meiner Mutter davon erzählte. Weil ich glaubte, ich würde verrückt werden, wenn ich den Mund hielt. Drei Tage später war Großvater tot. Er wachte morgens einfach nicht mehr auf. Großmutter wurde ganz wunderlich. Ich ging ja immer noch jeden Tag zu ihr, gleich von der Schule aus, aber manchmal war sie mir richtig unheimlich. Sie sprach mit sich selbst oder mit ihrer Schwester, mit Großvater und allen möglichen Leuten, die schon lange nicht mehr lebten. Immerzu murmelte sie vor sich hin. Nur selten verstand ich, was sie sagte, und wenn ich sie etwas fragte, schaute sie mich an, als sei ich überhaupt nicht da. Es waren ein paar schlimme Jahre damals. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich von der Uhr geträumt habe. Immer nahm der Braune sie von der Wand, trug sie irgendwo hin, schlug ihr die Stundenstriche aus. Und jedesmal war drei Tage später ein Mensch tot. Meist waren es alte Leute, Nachbarn und Bekannte von Großmutter, die ich sehr gern gemocht hatte. Aber die letzte damals war ein Mädchen aus meiner Schulklasse, mit dem ich mich manchmal nachmittags getroffen hatte, seit Großvater tot war. Sie wurde auf dem Nachhauseweg von einem Auto überfahren. Da war ich schon fünfzehn. Natürlich kann man sagen, Unfälle passieren eben und daß es normal ist, wenn alte Menschen sterben. Nur kann mir niemand erzählen, daß es normal ist, drei Tage vorher solch einen Traum zu haben. Ich dachte damals oft, ich sei vielleicht verflucht, verhext oder besessen, daß die Menschen nur sterben mußten, weil ich träumte, daß sie alle noch leben würden, wenn es mich nicht gäbe. Dann wieder dachte ich, daß ich nur zu dumm sei. Der Braune zeigte mir doch jedesmal die Stelle, an der jemand sterben mußte. Aber ich erkannte sie nie und hielt mich einfach für zu blöd und unfähig. In dem Alter stellt man sich ja alles mögliche vor. Nach dem Tod des Mädchens aus meiner Schulklasse war es lange Zeit still. Das hatte aber nichts zu bedeuten, es lagen manchmal größere und manchmal kleinere Zeiträume zwischen den Träumen. Daß es aufgehört hatte, glaubte ich nicht, obwohl mir oft einfiel, was mein Vater mir einmal gesagt hatte, mit der Pubertät und so. Na ja, ich war sechzehn, seit einem Jahr in der Lehre. Nichts Besonderes, nur ein kleiner Lebensmittelladen. Mutter hatte die erstbeste Lehrstelle genommen, die sich bot, ohne lange nach meinen Wünschen oder Neigungen zu fragen. Aber ich hatte ja auch keine Neigungen, ich hatte nur schlimme Träume und Gedanken. Und keinen Menschen, mit dem ich darüber reden konnte, ohne ausgelacht oder verprügelt zu werden, keinen einzigen. Großmutter lebte inzwischen in einem Pflegeheim. Da war sie ein Jahr nach Großvaters Tod eingezogen. Es hatte keinen Sinn, sie zu besuchen. Zuerst hatte sie Angst vor mir. Wenn ich kam, dann schrie sie, beschimpfte mich und schlug nach mir, bis ich wieder vor der Tür stand. Einmal brüllte sie die halbe Etage zusammen:
    »Du hast den Braunen ins Haus geholt. Habe ich dir nicht immer gesagt, er bringt uns nur Unglück? Jetzt sieh zu, daß du ihn wieder los wirst, bevor er uns alle ins Unglück reißt!« Später kannte sie mich gar nicht mehr. Mit meiner Mutter zu reden war sinnlos, und Anke war noch zu klein, um etwas zu verstehen. In dem Geschäft, in
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