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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy
Autoren: Hammesfahr Petra
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Kinder auf den Bildern leben über die Bundesrepublik verstreut. Sie sind nicht so glimpflich davongekommen wie Nicole, einige von ihnen haben wochenlang um ihr Leben kämpfen müssen. Aber sie leben, bis auf zwei. Ein Mädchen von neun Jahren, das geistig ein wenig zurückgeblieben war. Dessen Leiche man vor gut zweieinhalb Jahren im Stadtwald fand. Mißbraucht und mit einem Stein erschlagen. Und Hedwigs Tochter. Von ihr gab es allerdings kein Foto. Hedwig kam erst am späten Sonntag abend zu sich. Wolfgang Beer war bei ihr und erzählte ihr, was geschehen war. Sie hat vielleicht nicht auf Anhieb alles begriffen. Aber als ich sie mittwochs besuchte, hielt sie die ganze Zeit meine Hand fest, die rechte. Und zweimal fragte sie mich:
    »Hast du wirklich mit der zugeschlagen?« Und wenn ich dann nickte, lächelte Hedwig. Das immerhin hat sie begriffen. Das war vor vier Wochen. Letzten Sonntag haben wir den Mietvertrag aufgesetzt, die gleiche Summe, die auch Frau Humperts gezahlt hat. Hedwig hat sich die Wohnung angesehen, vor allem das Schlafzimmer. Es war frisch renoviert, neue Tapeten, neuer Teppichboden. Günther hatte das erledigt, er hat mir auch das Geld dafür vorgestreckt, obwohl er selbst nie welches hat. Hedwig schaute sich um und nickte immerzu.
    »Ist ein komisches Gefühl«, sagte sie.
    »Meinst du, sie kommt auch hierher, um mich zu fragen, wo ich war? Im Krankenhaus war sie zweimal bei mir.«
    »Wenn sie hierher kommt«, antwortete ich ihr,»schick sie einfach zu mir nach unten.« Hedwig nickte. Dann ging sie zum Fenster und nahm Maß für die Gardinen. Wir gingen wieder hinunter, nachdem sie zusammen mit Wolfgang Beer auch die anderen Räume ausgemessen hatte. Ich machte Kaffee. Günther trank noch eine Tasse mit, dann mußte er zum Dienst. Und kaum war er fort, kamen Nicole und Denise. Sie hatten sich mit den kleinen Brüdern gezankt und wollten bei uns auf der Terrasse spielen. Hedwig bekam ganz große Augen.
    »Sie ist niedlich, deine Kleine«, sagte sie,»die andere auch, wirklich niedlich. Man merkt ihr gar nichts an.« Gestern ist Hedwig gleich von der Arbeit aus mit mir gefahren. Sie hat auf einer Luftmatratze geschlafen, und jetzt ist sie oben und streicht die Küche. Man hört nicht viel von ihr, nur manchmal ein paar Schritte. Nicole war nach Mittag eine ganze Weile bei ihr, bevor sie zu Denise ging. Als sie herunterkam, hatte sie weiße Farbe auf den Wangen.
    »Die Frau ist ja nett«, meinte sie,»aber ich finde sie auch ein bißchen komisch. Sie will mich immer drücken.« Angst? Ja, ich habe Angst. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, was ich gemacht habe. Richtig für Nicole, für Hedwig, für mich. Letzte Nacht habe ich wieder geträumt, nur ein ganz normaler Alptraum. Ich war auf dem Friedhof und schaufelte wie besessen an einem Grab. Aber das Loch wurde einfach nicht tiefer. Dabei mußte es sehr tief werden, weil ich so viele zu begraben hatte. Meinen Vater, meinen Großvater, all die alten Leute, das Mädchen aus meiner Schulklasse, Franz und Herrn Genardy. Sie lagen alle auf einem Haufen, wie von einem Lastwagen hingekippt. Und ganz obenauf lag Hedwigs Tochter und gleich neben ihr Nicole. Dann sah ich auch, warum ich nicht schneller graben konnte, weil ich einen Packen Fotos in der rechten Hand hielt. Ich bin schreiend aufgewacht. Günther hielt meine Hände fest. Ich hatte im Traum nach ihm geschlagen. Er war ein bißchen blaß um die Nase.
    »Was ist los? Hast du wieder geträumt, doch nicht etwa von deiner Uhr?« Ich habe nur den Kopf geschüttelt, reden konnte ich nicht gleich. Von deiner Uhr! Es war doch nicht meine Uhr, sie gehörte Großmutter, bis der Braune zum erstenmal kam. Und wenn er noch hundertmal kommt, ich werde es nie schaffen, ihn als einen Freund zu sehen, der mich nur warnen will. Wie könnte ich auch? Er kündigt den Tod an.
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