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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy
Autoren: Hammesfahr Petra
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ganz arglos die Tür. Er hatte sie auf den Schoß genommen, hatte Fingerspiele mit ihnen gemacht, gelacht dabei, sie ein wenig gekitzelt, damit sie ebenfalls lachten. Damit sie das Ganze für einen Spaß hielten. Zwei kleine Mädchen, vier und fünf Jahre alt. So naiv noch, und trotzdem hatten sie begriffen, hatten darüber geredet. Man hatte ihnen zum Glück nicht alles geglaubt, vielleicht hatten sie es auch nicht richtig schildern können. Aber es hatte ausgereicht, ihn in den Ruin zu treiben. Allein der Schatten des Verdachts, hatte er sich von seinen Vorgesetzten anhören müssen, genüge schon. Und dann saß er in der schäbigen Pension, ohne feste Arbeit, ohne Wagen, den hatte er zuletzt auch noch verkaufen müssen. Früher war er damit oft losgefahren, Hunderte von Kilometern weit. Den Nachbarn hatte er immer erzählt, daß er seine Tochter besuche, den Schwiegersohn, die Enkelkinder. Dann hatte er sich irgendwo, wo ihn niemand kannte, ein Kind gesucht. Es war für ihn ohne Risiko. Er kannte die Fehler zur Genüge, die anderen unterliefen, weil sie sich nur von der Situation leiten ließen, nicht über den Augenblick hinaus dachten. 
    Er dachte immer weiter und handelte danach. Niemals hatte er ein Kind in seinen Wagen steigen lassen. Er stellte ihn auch nie so ab, daß sich später jemand an das Fahrzeug oder das Kennzeichen erinnern konnte. Er veränderte sein Äußeres, soweit das mit geringfügigen Mitteln möglich war, trug mal eine Brille, mal einen kleinen Schnurrbart. Und die Süßigkeiten in seinen Taschen machten erst müde, schläferten dann ein. Den Wagen verkaufen zu müssen war für ihn das Schlimmste. Er vermißte die Fahrten so sehr. Da hatte er sich nicht auf die Finger beschränkt. Und anschließend war er wochenlang ruhig gewesen, völlig ausgeglichen und zufrieden mit sich und allem anderen. Wenn das Wetter es erlaubte, machte er lange Spaziergänge, um nicht immer in dem muffigen Pensionszimmer über den Fehler grübeln zu müssen, den er gemacht hatte, den er niemals wiederholen wollte. Nie wieder ein Kind aus der näheren Umgebung! Oft saß er stundenlang auf einer Bank am Rand eines Spielplatzes. Und dort lernte er eines Tages ein Kind kennen, das alle guten Vorsätze zunichte machte. Es spielte immer alleine und blieb sehr lange. Da war es so leicht, mit ein paar freundlichen Worten, später dann ein paar kleinen Geschenken, eine grundsolide Basis für eine herzliche Beziehung zu schaffen. Da war es manchmal so gewesen, als habe er mit seiner eigenen Tochter zu tun. Das Kind war schon neun Jahre alt, aber ein wenig zurückgeblieben. Es war sehr zutraulich und folgte ihm bald aufs Wort. Fast zwei Monate lang war er mit ihm befreundet. Eine schöne Zeit, er mußte sich kaum einen Zwang auferlegen. Anfangs war er überzeugt, daß das Kind nicht reden würde, weil es einfach nicht begriff. Später allerdings kamen ihm Zweifel. Und zu seiner eigenen Sicherheit entschloß er sich dann, dafür zu sorgen, daß nichts bekannt werden konnte. Das war vor zweieinhalb Jahren gewesen.Es wird jemand sterben. Das weiß ich ganz sicher. Und ich kann mit niemandem darüber reden. In all den Jahren hat mir niemals ein Mensch geglaubt. Wenn ich früher nur eine Andeutung machte, daß ich wieder von der Uhr geträumt hatte, bekam meine Mutter Anfälle. Manchmal hat sie mich sogar verprügelt dafür, als ob es meine Schuld gewesen wäre. Kein Mensch kann etwas für seine Träume. Und bei meiner Mutter hatte ich immer das Gefühl, daß sie mich nur schlug, um mit ihrer eigenen Angst fertig zu werden. Ich hatte auch Angst, entsetzliche Angst. Wenn ich von der Uhr träume, bedeutet das den Tod für einen Menschen, den ich kenne oder liebe. 
    Es ist kein Aberglaube, kein Blödsinn, auch keine Einbildung. Es ist seit mehr als zwanzig Jahren so, ich kann es beweisen. Vor zweiundzwanzig Jahren hing die Uhr im Wohnzimmer meiner Großeltern. Sie paßte gar nicht dorthin mit ihrem kreisrunden schwarzen Zifferblatt, den messingfarbenen Stundenstrichen und den spitzen Zeigern. Aber sie hing an der Wand über dem Sofa, gleich neben einem Bild, auf dem ein Waldstück und eine tiefe Schlucht dargestellt waren, und jeden Abend zog Großvater sie mit einem Schlüssel auf. Das habe ich oft genug gesehen. Ich war damals zwölf und hundertmal lieber bei den Großeltern als daheim. Schon damals kam ich nicht sonderlich gut mit meiner Mutter zurecht. Daran hat sich in all den Jahren nichts geändert, nur war es damals eben
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