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Der stille Herr Genardy

Der stille Herr Genardy

Titel: Der stille Herr Genardy
Autoren: Hammesfahr Petra
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schlimmer. Mutter beschwerte sich unentwegt. Ich sei ein unmögliches Kind; wie oft ich diesen Satz gehört habe, weiß ich gar nicht mehr. Ständig hielt Mutter mir meine Schwester Anke als gutes Beispiel vor. Anke war vier Jahre jünger als ich. Anke war immer fröhlich. Unkompliziert, sagte Mutter, mit mir dagegen habe es von Anfang an nur Schwierigkeiten gegeben. Keine Nacht habe sie durchschlafen können. Ich hatte wohl auch als kleines Kind oft Alpträume und schrie dann, fürchtete mich vor der Dunkelheit, wollte nicht in meinem Bett bleiben, nicht allein sein. Und tagsüber kamen mir oft ganz verrückte Gedanken in den Sinn. Da mußte nur eine Autotür schlagen, ein Hund bellen, ein dicker Stein auf der Straße liegen, dann sah ich Blut, zerrissene Glieder und eingeschlagene Köpfe. Eigentlich hatte ich immer Angst. Aber wenn ich etwas sagte, hielt Mutter mir einen ellenlangen Vortrag, in dem ein dutzendmal der Ausdruck  »unmögliches Kind« fiel. Irgendwann war ich es leid, mir Mutters Vorwürfe anzuhören, und die Großeltern wohnten nur zwei Straßen von uns entfernt. Jeden Tag ging ich gleich nach der Schule hin, blieb meist bis zum Abend, bis ich sicher sein konnte, daß mein Vater zu Hause war. Er liebte mich, das wußte ich ganz sicher. Er kam jedesmal, wenn ich nicht schlafen konnte, saß auf der Bettkante, sprach mit mir über böse Träume und daß sie keinen Sinn hätten, gar keinen Sinn und keine Bedeutung, bis ich dann wieder einschlafen konnte. Und wenn ich ihm erzählte, was mir tagsüber durch den Kopf gegangen war, fragte er manchmal:
    »Hat Oma dir wieder vom Krieg erzählt?« Oder er sagte:
    »Es geht vorbei, wenn du älter wirst, Siggi. Warte nur ab, wenn du erwachsen bist, kannst du darüber lachen. Vielleicht ist es nur die Pubertät, da hat man mit vielen Dingen zu kämpfen.« Die Großeltern mochte ich sehr gerne. Mein Vater jedoch war damals fast ein Heiliger für mich. Ein Mensch, der alles erklären konnte, und der einzige Mensch, den ich wirklich liebte. Wenn er daheim war, fühlte ich mich sicher. Leider kam er immer erst kurz nach sieben von der Arbeit. Er war auf dem Bau beschäftigt, und Mutter sah es gern, wenn er Überstunden machte. An dem Nachmittag, als das mit der Uhr passierte, saß ich mit Großmutter im Wohnzimmer. Ich war noch mit den Aufgaben für die Schule beschäftigt, als es plötzlich ganz still wurde. Es war auch vorher nicht gerade laut im Zimmer gewesen, nur das Klappern von Großmutters Stricknadeln, hin und wieder ein Seufzer, wenn sie sich bei den Maschen verzählt hatte und wieder von vorne beginnen mußte, und das Ticken der Uhr. Und dann die Stille. Sie hatte für mich im ersten Augenblick überhaupt keine Bedeutung. Doch Großmutter machte ein Gesicht, als habe der Blitz eingeschlagen, bekreuzigte sich und flehte murmelnd ein paar Heilige im Himmel an, daß sie uns beistehen möchten. Dann behauptete sie immer noch flüsternd, es sei das Zeichen für Tod, wenn eine Uhr so plötzlich stehenbleibe. Ich weiß noch, daß ich vor Verlegenheit und Unbehagen gelacht habe. Und Großmutter sagte:
    »Über solche Dinge lacht man nicht, Sigrid. Habe ich dir nicht mal erzählt, wie das im Krieg war, als bei meiner Schwester die Uhr stehenblieb? Und drei Tage später waren sie alle tot, im Keller verschüttet und erstickt: meine Schwester, mein Schwager, die zwei kleinen Kinder. Warte ab, dann wirst du sehen, daß ich dir keinen Unsinn erzähle. Es wird etwas Schreckliches passieren, ich kann es fühlen.« Abends sprach ich mit meinem Vater darüber. Und ich war so erleichtert, als er ebenfalls lachte. Die Geschichte von ihrer Schwester, meinte er, habe Großmutter schon hundertmal erzählt und jedesmal ein bißchen anders. Seiner Meinung nach hatte Großvater schlicht und einfach vergessen, die Uhr aufzuziehen. Ich höre Papa heute noch sagen:
    »Manchmal habe ich nicht übel Lust, Oma das Maul zu stopfen. Bei dem Unsinn, den sie dir immer auftischt, muß man sich über gar nichts wundern. Es fehlt nur noch, daß sie morgen behauptet, der Kapuzenmann persönlich hätte die Uhr angehalten, um ihr ein Zeichen zu geben.« Das hätte er besser verschwiegen, denn in der Nacht träumte ich zum erstenmal davon. Aber im Traum blieb die Uhr nicht einfach nur stehen. Da kam ein Mann in einem dunkelbraunen Umhang ins Wohnzimmer. Kopf und Gesicht waren von einer Kapuze verdeckt, in einer Hand hielt er einen kleinen Hammer. Er nahm die Uhr von der Wand und trug sie hinaus,
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