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Der Steppenwolf

Der Steppenwolf

Titel: Der Steppenwolf
Autoren: Hermann Hesse
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geschwatzt hatte?
    Nochmals blickte ich in den Spiegel. Ich war toll gewesen. Kein Wolf stand hinter dem hohen Glas und rollte die Zunge im Maul. Im Spiegel stand ich, stand Harry, mit grauem Gesicht, von allen Spielen verlassen, von allen Lastern ermüdet, scheußlich bleich, aber immerhin ein Mensch, immerhin jemand, mit dem man reden konnte.
    »Harry«, sagte ich, »was tust du da?«
    »Nichts«, sagte der im Spiegel, »ich warte nur. Ich warte auf den Tod.«
    »Wo ist denn der Tod?« fragte ich.
    »Er kommt«, sagte der andre. Und ich hörte, aus den leeren Räumen im Innern des Theaters her, eine Musik tönen, eine schöne und schreckliche Musik, jene Musik aus dem »Don Juan«, die das Auftreten des steinernen Gastes begleitet. Schauerlich hallten die eisigen Klänge durch das gespenstische Haus, aus dem Jenseits, von den Unsterblichen kommend.
    »Mozart!« dachte ich und beschwor damit die geliebtesten und höchsten Bilder meines inneren Lebens.
    Da klang hinter mir ein Gelächter, ein helles und eiskaltes Gelächter, aus einem den Menschen unerhörten Jenseits von Gelittenhaben, von Götterhumor geboren. Ich wandte mich um,durchfroren und beseligt von diesem Lachen, und da kam Mozart gegangen, lachend ging er an mir vorüber, schlenderte gelassen auf eine der Logentüren zu, öffnete sie und trat ein, und ich folgte ihm begierig, dem Gott meiner Jugend, dem lebenslangen Ziel meiner Liebe und Verehrung. Die Musik erklang weiter. Mozart stand an der Logenbrüstung, vom Theater war nichts zu sehen, den grenzenlosen Raum füllte Finsternis.
    »Sie sehen«, sagte Mozart, »es geht auch ohne Saxophon. Obwohl ich diesem famosen Instrument gewiß nicht zu nahe treten möchte.«
    »Wo sind wir?« fragte ich.
    »Wir sind im letzten Akt des Don Giovanni, Leporello liegt schon auf den Knien. Eine vortreffliche Szene, und auch die Musik kann sich hören lassen, nun ja. Wenn sie auch noch allerlei sehr Menschliches in sich hat, man spürt doch schon das Jenseits heraus, das Lachen – nicht?«
    »Es ist die letzte große Musik, die geschrieben worden ist«, sagte ich feierlich wie ein Schullehrer. »Gewiß, es kam noch Schubert, es kam noch Hugo Wolf, und auch den armen herrlichen Chopin darf ich nicht vergessen. Sie runzeln die Stirn, Maestro – o ja, auch Beethoven ist ja da, auch er ist wunderbar. Aber das alles, so schön es sei, hat schon etwas von Bruchstück, von Auflösung in sich, ein Werk von so vollkommenem Guß ist seit dem Don Giovanni nicht mehr von Menschen gemacht worden.«
    »Strengen Sie sich nicht an«, lachte Mozart, furchtbar spöttisch. »Sie sind ja wohl selber Musikant? Nun, ich habe das Metier aufgegeben, ich habe mich zur Ruhe gesetzt. Nur Spaßes halber sehe ich zuweilen dem Betrieb noch zu.«
    Er hob die Hände, als dirigierte er, und ein Mond oder sonst ein bleiches Gestirn ging irgendwo auf, über die Brüstung blickte ich in unmeßbare Raumtiefen, Nebel und Wolken zogen darin, Gebirge dämmerten und Meergestade, unter uns dehnte sich weltenweit eine wüstenähnliche Ebene. In dieser Ebene sahen wir einen ehrwürdig aussehenden alten Herrn mit langem Barte, der mit wehmütigem Gesicht einen gewaltigen Zug von einigen zehntausend schwarzgekleideten Männern anführte. Er sah betrübt und hoffnungslos aus, und Mozart sagte:
    »Sehen Sie, das ist Brahms. Er strebt nach der Erlösung, aber damit hat es noch gute Weile.«
    Ich erfuhr, daß die schwarzen Tausende alle die Spieler jener Stimmen und Noten waren, welche nach göttlichem Urteil in seinen Partituren überflüssig gewesen wären.
    »Zu dick instrumentiert, zuviel Material vergeudet«, nickte Mozart.
    Und gleich darauf sahen wir an der Spitze eines ebenso großen Heeres Richard Wagner marschieren und fühlten, wie die schweren Tausende an ihm zogen und sogen; müde mit Dulderschritten sahen wir auch ihn sich schleppen.
    »In meiner Jugendzeit«, bemerkte ich traurig, »galten diese beiden Musikanten für die denkbar größten Gegensätze.«
    Mozart lachte.
    »Ja, das ist immer so. Aus einiger Entfernung gesehen, pflegen solche Gegensätze einander immer ähnlicher zu werden. Das dicke Instrumentieren war übrigens weder Wagners noch Brahms’ persönlicher Fehler, es war ein Irrtum ihrer Zeit.«
    »Wie? Und für den müssen sie nun so schwer büßen?« rief ich anklagend.
    »Selbstverständlich. Es ist der Instanzenweg. Erst wenn sie die Schuld ihrer Zeit abgetragen haben, wird sich zeigen, ob noch so viel Persönliches übrig ist, daß
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