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Der Steppenwolf

Der Steppenwolf

Titel: Der Steppenwolf
Autoren: Hermann Hesse
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verlegen, wußten nicht, was sagen und was tun, begannen aus Verlegenheit schneller zu laufen und trabten, bis wir den Atem verloren und stehenbleiben mußten, ohne aber unsre Hände loszulassen. Wir waren beide noch in der Kindheit und wußten nicht recht was miteinander anzufangen, wir kamen an jenem Sonntag nicht einmal bis zu einem ersten Kuß, aber wir waren ungeheuer glücklich. Wir standen und atmeten, wir setzten uns ins Gras, und ich streichelte ihre Hand, und sie fuhr mir mit der andern Hand schüchtern übers Haar, und dann standen wir wieder auf und probierten zu messen, wer von uns größer sei, und eigentlich war ich um einen Fingerbreit größer, aber ich gab es nicht zu, sondern stellte fest, daß wir ganz genau gleich groß seien, unddaß der liebe Gott uns füreinander bestimmt habe, und daß wir uns später heiraten würden. Da sagte Rosa, sie rieche Veilchen, und wir knieten im kurzen Frühlingsgras und suchten und fanden ein paar Veilchen mit kurzen Stielchen, und jedes schenkte die seinen dem andern, und als es kühler wurde und das Licht schon schräg über die Felsen fiel, sagte Rosa, sie müsse heim, und da wurden wir beide sehr traurig, denn begleiten durfte ich sie nicht, aber nun hatten wir ein Geheimnis miteinander, und das war das Holdeste, was wir besaßen. Ich blieb oben in den Felsen, roch an Rosas Veilchen, legte mich über einem Absturz an den Boden, das Gesicht über der Tiefe, und schaute hinab auf die Stadt und lauerte, bis ihre süße kleine Gestalt tief unten erschien und am Brunnen vorbei und über die Brücke lief. Und jetzt wußte ich sie in ihres Vaters Haus angekommen, und dort ging sie durch die Stuben, und ich lag hier oben weit von ihr, aber von mir zu ihr lief ein Band, lief ein Strom, wehte ein Geheimnis. Wir sahen uns wieder, hier und dort, auf den Felsen, bei den Gartenzäunen, diesen ganzen Frühling lang, und gaben uns, als der Flieder anfing zu blühen, den ersten ängstlichen Kuß. Wenig war es, was wir Kinder einander geben konnten, und unser Kuß war noch ohne Glut und ohne Fülle, und das lose Haargekräusel um ihre Ohren wagte ich nur leise zu streicheln, aber alles war unser, wessen wir an Liebe und Freude fähig waren, und mit jeder schüchternen Berührung, mit jedem unreifen Liebeswort, mit jedem bangen Aufeinanderwarten lernten wir ein neues Glück, stiegen wir eine kleine Stufe an der Liebesleiter empor. So lebte ich, mit Rosa und den Veilchen beginnend, mein ganzes Liebesleben noch einmal durch, unter glücklicheren Sternen. Rosa verlor sich, und Irmgard erschien, und die Sonne wurde heißer, die Sterne trunkener, aber nicht Rosa noch Irmgard wurde mein, Stufe um Stufe mußte ich steigen, viel erleben, viel lernen, mußte auch Irmgard, auch Anna wieder verlieren. Jedes Mädchen, das ich einst in meiner Jugend geliebt, liebte ich wieder, aber jedem vermochte ich Liebe einzuflößen, jeder etwas zu geben, von jeder beschenkt zu werden. Wünsche, Träume und Möglichkeiten, die einst einzig in meiner Phantasie gelebt hatten, waren jetzt Wirklichkeit und wurden gelebt. O ihr schönen Blumen alle, Ida und Lore, ihr alle, die ich einst einen Sommer lang, einen Monat lang, einen Tag lang geliebt habe!
    Ich begriff, daß ich jetzt der hübsche glühende kleine Jüngling war, den ich zuvor so eifrig nach der Liebespforte hatte laufen sehen, daß ich jetzt dies Stück von mir, dies nur zu einem Zehntel, einem Tausendstel erfüllte Stück meines Wesens und Lebens auslebte und wachsen ließ, unbeschwert von allen den andern Figuren meines Ichs, ungestört vom Denker, ungequält vom Steppenwolf, ungeschmälert vom Dichter, vom Phantasten, vom Moralisten. Nein, jetzt war ich nichts andres als Liebender, atmete kein andres Glück und kein andres Leid als das der Liebe. Schon Irmgard hatte mich tanzen, Ida mich küssen gelehrt, und die Schönste, Emma, war die erste, die mir, am Herbstabend unterm wehenden Ulmenlaub, ihre bräunlichen Brüste zu küssen und den Becher der Lust zu trinken gab.
    Vieles erlebte ich in Pablos kleinem Theater, und kein Tausendstel davon ist mit Worten zu sagen. Alle Mädchen, die ich je geliebt, waren nun mein, jede gab mir, was nur sie allein zu geben hatte, jeder gab ich, was nur sie von mir zu nehmen wußte. Viel Liebe, viel Glück, viel Wollust, viel Verwirrung auch und Leid bekam ich zu kosten, alle versäumte Liebe meines Lebens blühte in dieser Traumstunde zauberhaft in meinem Garten, keusche zarte Blumen, grelle lodernde Blumen,
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