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Der Sprung ins Jenseits

Der Sprung ins Jenseits

Titel: Der Sprung ins Jenseits
Autoren: Clark Darlton
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Moment vermuten ließ. Es waren auch diese Augen, die mich nicht mehr loszulassen schienen, und mir war, als stürze ich in einen See und tauche in grundlose Tiefen hinab.
    Ich kehrte schnell zur Oberfläche zurück, als er mich freundlich grüßte und nach dem Grund meines unverhofften Besuches fragte.
    »Ein Freund erwartet mich«, sagte ich, nachdem ich seinen Gruß erwidert hatte. »Yü Fang muß in diesem Kloster sein, ehrwürdiger Vater.«
    »Bruder Yü Fang ist hier, aber er hat außerhalb des Klosters keine Freunde. Und nennt mich nicht ›ehrwürdiger Vater‹, ich bin nur Bruder Lo Kan. Wartet hier, ich werde die Erlaubnis einholen …«
    Quer über den Hof kam ein Mann. Er ging ein wenig gebückt, und ich sah auf den ersten Blick, daß es diesmal wirklich ein alter Mann war. Das Gesicht war voller Furchen, der spärliche Bart reichte fast bis zur Brust. In den Augen schimmerte die gleiche Zeitlosigkeit wie bei Bruder Lo Kan. Ein seltsames Gefühl überkam mich, als mich diese Augen ansahen.
    Lo Kan berichtete ihm, wer ich sei. Der Alte kam näher, bis sein Gesicht nur einen halben Meter von dem meinen entfernt war.
    »Yü Fang …?« fragte er.
    »Wir studierten zusammen in Heidelberg. Wißt Ihr nicht davon, Vater?«
    Ich konnte ihn nicht einfach ›Bruder‹ nennen, dazu war er zu alt. Er verbeugte sich leicht und trat zur Seite. Sekunden später öffnete sich knarrend das gewaltige Tor und schwang langsam nach innen auf. Erst jetzt konnte ich einige Bäume sehen, die links vom Brunnen wuchsen. Hinter mir heulte der Motor des Jeeps auf. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung, fuhr an mir vorbei und hielt im Schatten der Bäume. Das Motorengeräusch verstummte.
    Die voreilige Handlungsweise meines Fahrers war mir peinlich, aber der Alte schien sie gar nicht bemerkt zu haben. Trotz seiner scheinbar schwachen körperlichen Konstitution legte er den schweren Balken mit einer Handbewegung wieder in die Metallgabeln, nachdem er die Torflügel zugeschoben hatte. Er tat es mit einer Leichtigkeit, die mich in Erstaunen versetzte. Dann kam er zu mir.
    »Danke, ehrwürdiger Vater«, sagte ich.
    »Es gibt nur wenig Fremde, die unsere Sprache kennen.«
    Das war Feststellung und Frage zugleich. Ich antwortete:
    »Ich bin Geschichtsforscher. Meine Sprachkenntnisse sind nur gering, aber ich bin glücklich, wenn sie genügen, mich Ihnen verständlich zu machen.«
    Über das vergeistigte Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns.
    »Oh, wir können uns auch in Ihrer Sprache unterhalten«, sagte er deutsch. »Yü Fang ist nicht nur ein guter Schüler, sondern auch ein vorbildlicher Lehrer. Er hat mir viel von Ihnen erzählt. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm. Lo Kan wird sich um Ihren Fahrer kümmern. Sie sind unsere Gäste.«
    Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ihn meine Ankunft überhaupt nicht überraschte, ja, daß er sie sogar erwartet hatte. Das aber war so gut wie unmöglich, denn selbst Yü konnte nicht wissen, daß ich gerade heute kam. Bruder Lo Kan und mein Fahrer brachten die Gepäckstücke an uns vorbei ins Kloster. Wir folgten ihnen langsamer. Es war kühl, und die Luft war frischer als draußen. Konnte es sein, daß die Mönche mehr von Klimaanlagen verstanden als wir, die wir zur Klimatisierung komplizierte Maschinen benötigen?
    War der Alte Yüs Onkel? Als er mir vor zehn Jahren von ihm erzählte, hatte ich ihn mir genauso vorgestellt. Ich hätte ihn gern gefragt, hielt es aber für taktlos. Er ging vor mir her. Der Gang war nur spärlich durch schmale Fenster erhellt, die hinaus auf den Hof führten.
    Plötzlich sagte er, ohne sich umzudrehen:
    »Ja, ich bin Ho Ma Ten, Yüs Onkel.«
    Wenn ich heute daran zurückdenke, wundert es mich eigentlich, daß ich nicht gleich an die Möglichkeit der Gedankenübertragung glaubte. Vielleicht deshalb nicht, weil ich viel zu sehr an das bevorstehende Wiedersehen mit Yü dachte, den ich zehn Jahre lang nicht gesehen hatte. So gab ich also keine Antwort und versuchte, mit Ho Ma Ten Schritt zu halten.
    Vor einer Holztür blieb er stehen.
    »Hier wohnt Yü. Begrüßen Sie ihn, ich lasse inzwischen Ihr Zimmer herrichten. Heute werden wir gemeinsam das Abendessen einnehmen. Vorher können Sie ein Bad nehmen. Bis später also …«
    Er ging weiter und verschwand hinter der nächsten Biegung. Ich blieb zurück und starrte auf die Tür, hinter der mein Freund auf mich wartete.
    Wie lange wartete er eigentlich schon? Jahre oder erst Tage? Er konnte unmöglich von meiner
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