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Der Spiegel von Feuer und Eis

Der Spiegel von Feuer und Eis

Titel: Der Spiegel von Feuer und Eis
Autoren: Morrin Alex
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Qual wollten Cassims Beine nachgeben. »Und jetzt sieh her!« Sie wurde zu einer Stele gezerrt, zu der sich umeinander windendes Eis und Flammen erstarrt waren. Auf ihr ruhte etwas, das einmal ein herrlicher Kristall aus Frost und Feuer gewesen sein musste, doch nun war sein Lohen erloschen. Da waren Schlieren, die sein Inneres zusammen mit Rissen und Sprüngen durchzogen. Seine Kanten waren abgesplittert und gebrochen, die Facetten trüb zerkratzt. Er drohte zu zerfallen, sollte man ihn auch nur berühren.
    »Als mein Sohn den letzten Rest seiner Macht gab, um dich vor Lyarians Zauber zu retten, wurde er sterblich.« Der Griff der Eiskönigin verstärkte sich. »Er hätte weiterleben können – nur noch ein Mensch, aber zumindest am Leben.« Königin Lyjadis sah sie in hasserfüllter Bitterkeit an. »Aber der Narr musste dich noch einmal beschützen. – Und nun ist er tot!« Sie stieß Cassim noch dichter an die Stele. »Sieh hin, Mensch! Durch
deine Schuld habe ich meinen Sohn zum zweiten Mal verloren. – Wie kannst du es da wagen, zu fragen, was du getan hast.« Ihre Hand gab Cassim so abrupt frei, dass sie hart auf die Knie stürzte. In hilflosem Entsetzen sah sie zur Eiskönigin auf. Selbst wenn sie gewusst hätte, was sie sagen sollte, wäre kein Laut über ihre Lippen gekommen. Königin Lyjadis blickte kalt auf sie hinab. »Du wirst den Avaën verlassen.« Ihre Worte gruben sich in Cassims Inneres. »Finde ich dich nach Sonnenuntergang noch hier, werde ich dich töten. – Und wage es ja nicht, noch einmal in die Nähe meines Sohnes zu kommen!« In einem Wirbel aus Seide und Frost wandte sie sich brüsk ab und verließ den Saal, ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Benommen starrte Cassim ihr nach. Der Hass, den sie in den Zügen der Eiskönigin gesehen hatte, ließ keinen Zweifel zu: Sie würde keinen Augenblick zögern, ihre Drohung wahr zu machen. Unsicher stemmte sie sich vom Boden hoch. Wenn sie nicht sterben wollte, blieb ihr keine andere Wahl, als zu gehen. Für einen Moment wallte Trotz in ihr auf, doch er ertrank gleich wieder in Mutlosigkeit. Es gab hier nichts mehr für sie. Gar nichts!
    Ihr Blick fiel auf den zerstörten Kristall. Plötzlich war etwas in ihrer Brust, das ihre Atemzüge mühsam machte. Es fühlte sich an wie jener Schmerz, den sie gespürt hatte, als der Gildenmeister ihr den Tod ihrer Eltern offenbart hatte. Ein letztes Mal noch …
    Sie zwang die brennenden Tränen zurück und streckte vorsichtig die Hand nach dem Kristall aus, strich mit den Fingerspitzen über eine Kante. Sie brach unter ihrer Berührung. Doch anstatt die Hand zurückzuziehen, erstarrte sie. Ihr Herz klopfte in der Kehle. Da war etwas. Ein Flüstern. Nicht zu hören, nur zu spüren. Und dennoch da! Verzweifelt versuchte sie, das harte Pochen in ihrer Brust zur Ruhe zu zwingen, ihre Finger am Zittern zu hindern. In einer raschen Bewegung wischte sie sich die Tränen von den Wangen. Sie glitzerten als winzige Diamanten
auf ihrer Handfläche. Ihr Mund war plötzlich trocken. Cassim presste die Lippen zusammen, zwang sich, tief durchzuatmen. Sie hatte das Auge des Feuers geheilt. Sie hatte den Spiegel von Feuer und Eis zusammengefügt. – Und dieses Mal ging es um so viel mehr.
    Behutsam nahm sie den Kristall in die Hände – Stille. – - Und dahinter jenes Flüstern. Es war nicht mehr als ein Wispern, kaum ein Hauch. Unendlich weit entfernt, umgeben von Leere und Dunkelheit. Und es schwand! Nein! Verzweiflung und Trotz lagen in ihrem lautlosen Schrei. Sie merkte nicht, dass die Tränen, die sie eben zurückgezwungen hatte, jetzt doch über ihre Wangen strömten. Sie spürte nicht, dass sie den zerstörten Kristall so fest umklammerte, dass seine zerschlagenen Kanten ihr in die Hände schnitten. Sie begriff nicht, dass die gellenden Schreie voller hilfloser Wut ihre eigenen waren. Sie fühlte nichts mehr außer Leere und Dunkelheit – und das leise Flüstern.

    Ein Hauch unter dem Schweigen der Leere, die sie ausfüllte.
    »Hier! Hier ist sie! Ich habe sie gefunden, Herr!« Aus der Dunkelheit schälten sich Schatten. Arme umfassten sie, zogen sie in die Höhe, lehnten sie an eine Brust.
    »Bei den Flammen, was ist passiert? Lebt sie?«
    Nur langsam kehrten ihre Sinne zurück. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte ihn jemand mit Daunen ausgestopft. Eine Hand berührte ihr Gesicht, ihren Hals. Für einen Moment herrschte gespanntes Schweigen, dann: »Ja, Herr. Gerade noch.«
    Sie erkannte die Stimmen allmählich:
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