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Der Sonntagsmonat

Der Sonntagsmonat

Titel: Der Sonntagsmonat
Autoren: John Updike
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improvisiertes Lied vom Haushalt und ein paar klar wie Glockenschläge klingende Fakten, die hauptsächlich, wie ich mir vorstellte, mich betrafen. Dann Stille. So mochte mein Vergnügen, als ich herausfand, daß Ned und Alicia vögelten, im Grunde Freude über die Entdeckung sein, daß meine Eltern in ihrem Schweigen nicht tot, sondern lebendig waren, daß nicht alle Liebe durch meine Geburt erstorben war, sondern daß die Laube ihres Einsseins nach wie vor über mir blühte.
    Diese Sätze sind mir nicht in bestimmter Reihenfolge gekommen. Jeder von ihnen hat geschmerzt. Jeder von ihnen hätte – beim gleichen Endeffekt – anders lauten können. Alle Fakten sind gleichermaßen bedrückend. Jede Konstellation von äußeren Umständen kann eine Vielfalt von psychologischen Bedingungen verursachen. Wir erkennen das an, wenn wir in Romanen die Rückblenden überschlagen.
    Beim nochmaligen Lesen wird mir klar, daß die singende Stimme meiner Mutter für mich das war, was ich an ihr als Sex empfand; daß ich ihre Heiserkeit in meiner kindlichen Unschuld auf ihren unteren Mund übertrug, der sich, wenn ich klein neben ihr in der Bankreihe stand, in der Höhe meines Mundes befand; daß ich Geräusch mit Vitalität gleichsetze; daß Schweigen, Keuschheit und Tod mich mit ein und demselben Gesicht faszinieren ; daß Alicias Macht über die Orgeltasten Teil ihrer Macht über mich war.
    Ich sehe, daß ich, obwohl ich doch über meinen Vater schreiben wollte, statt dessen über meine Mutter geschrieben habe. Und doch – sie war unbedeutend, ängstlich, mißvergnügt in ihrer mausgrauen Art und groß nur in zeitlicher Dimension, in ihrer Beständigkeit. Während mein Vater ein eindrucksvoller, gutaussehender Mann war und es sogar jetzt noch ist, mit seinen siebenundsiebzig Jahren, da er senil in einem Pflegeheim sitzt.
    Und mir fällt auf, daß ich «indem ich brav war» schrieb, während ich hätte schreiben sollen, «indem ich im Staube lag» – denn eine merkwürdige Schlangenperspektive kennzeichnet nicht nur meine frühen Kindheitseindrücke, sondern auch jene, die ich empfing, als ich mich aufgerichtet hatte, ja sogar als ich zur Größe meiner Mutter aufgewachsen war. Ihr Gesangbuch befindet sich immer über der Höhe meiner Augen, ich spüre vor mir den Raum unter der Kirchenbank mit dem nie gefirnißten Holz und den ungesäumten Samträndern, die von altmodischen Polsterernägeln gehalten wurden, deren Messingknöpfe angelaufen waren und die Farbe getrockneter Blutflecken angenommen hatten. «Wer am Boden liegt», pflegten wir zu singen, «fürchtet nicht den Fall.» «Sie alle, die sie hinabsinken in den Staub», sprach der Psalmist, «sollen sich vor Ihm beugen.» Sexuell gesehen (und warum nicht? die Schulzeit ist vorbei), bevorzugte ich die untere Lage – oben ist die Frau so sehr viel geschmeidiger und schwellender und interessierter – und lechzte danach, «hinabzusinken», nach unten zu gleiten. Oh, wie Alicias Aufschreie, süßer als Honig in der Wabe, in meinen Ohren widerhallten, wenn sie in den feuchtwarmen lebendigen Schraubstock ihrer Oberschenkel gespannt waren! Und weiter unten, jenseits von unten, die gestern so trefflich beschriebenen Zehen – wie es mich entzückte, sie zu küssen, besonders wenn der Geruch von Schweiß und Capezio-Leder geheimnisvoll auf ihrer Haut lag, oder der Duft eines barfuß begangenen Sommertags, Sand und Salz und der Geschmack von den zahllosen betretenen Teilchen, von Teerkrumen bis hin zu verwesenden Laubstückchen, die den gesegneten Grund unseres Seins ausmachen!
    Das Tillichsche Bild kommt gelegen. Denn ich muß noch sagen, was es die Tasten zu sagen juckt, daß nämlich meines Vaters Haus mir einen Glauben an Gott einpflanzte, der aus meinem Leben ein langes fröhliches Fest der Unbequemlichkeit und Unvernunft gemacht hat.
    Wie hat es das bewerkstelligt?
    Wie habe ich es fertiggebracht, einen so monströsen Eindruck zu gewinnen?
    Daß mein Vater mir bei seinen pfuscherhaften Bemühungen, mit der widerborstigen, verfilzten Anhängerschaft seiner muffigen Gemeinde die Welt zu bewegen, schwachsinnig vorkam, habe ich schon angedeutet. Er war weder ein weiser noch, insofern als sein öffentliches Bestreben, Vorbild zu sein, für die Familie gedämpfte Tyrannei mit sich brachte, ein gütiger Mann. Von seiner besten Seite zeigte er sich (unten, wiederum) in seinem Keller, in den aufeinanderfolgenden Pfarrhauskellern, in denen er sich jedesmal eine ungewöhnlich
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