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Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen

Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen

Titel: Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
Autoren: Sabine Ludwigs
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seinem staunenden Verstand. Alles lag deutlich vor ihm. Er kontrollierte es anhand des letzten von Lina gelegten Wortes. Ihr DIRBRALONGSZWOL lieferte ihm die endgültige Bestätigung.
    Die Konsonanten waren gleich. Aber die Vokale, die stimmten nicht überein.
    Von C auf G, dachte er wieder. So ähnlich, nur so ähnlich. – Nicht von C auf G. Sondern von A auf … auf E.
    Warum, verdammt, war er nicht viel früher darauf gekommen?
    Als er aufschaute, war Lina fort. Die Tür zum Souterrain stand einen Spalt auf. Das vertraute Rauschen in den Wasserleitungen ließ nicht lange auf sich warten.
    Aber das machte nichts. Er war sogar der Ansicht, es fügte sich auf eigenartige Weise harmonisch in das Plätschern ein, das in der Luft lag, weil der Regen noch von Blättern, Dachziegeln oder der Markise abtropfte.
    Nick holte sich ein Stück von dem Apfelkuchen, den Marion heute Morgen gebacken hatte. Aus dem Wohnzimmer tönte noch immer der Fernseher. Er ging wieder auf die Terrasse und arbeitete weiter an seinem Wortmosaik.
    Von A, da war er nun sicher, nach E. Also immer einen Vokal weiter. Aus A wird E, aus E wird I, aus dem I wird ein O, aus O ein U. Und das U wird zum A. – Und logischerweise umgekehrt. Natürlich wird dann aus Ä Ö, aus Ö Ü aus Ü Ä. Alles andere blieb, so weit er herauslas.
    Er nahm einen Bissen von dem Kuchen, kaute konzentriert und schob die Vokal-Steinchen korrigierend an die entsprechenden Stellen.
    Aus DIRBRALONGSZWOL wurde nun DERBRULINGSZWIL.
    „Genau so. Jetzt ist es besser zuerkennen“, murmelte er vor sich hin, als würde er aus einer Bauanleitung vorlesen. „Viel, viel besser. Die erste Silbe, die ist hier in Wahrheit die letzte. Die zweite die vorletzte. Die dritte die zweite und die letzte, die ist eigentlich die erste Silbe. Ein wenig wie rückwärts lesen.“
    Mit dem Zeigefinger der rechten Hand verschob er die Silben an entsprechende Stellen. Aus DER BRU LINGS ZWIL wurde ZWIL LINGS BRU DER.
    Und noch mal: Aus RITERGO wurde mit dem Vokaltausch RETARGI, und mithilfe der Silbenverschiebung verwandelte sich das RE TAR GI in GI TAR RE, Gitarre.
    Nick lächelte optimistisch.
    Lina trennte offenkundig Doppelbuchstaben. Bei einsilbigen Worten hingegen, wurde direkt hinter dem ersten Buchstaben getrennt und dieser dann hinten angesetzt.
    Aber auch hier folgte die Veränderung der Vokale: DIR wurde getrennt in D-IR, wonach die erste Silbe, beziehungsweise in diesem Falle der erste Buchstabe, an das Wortende gesetzt wurde, damit wurde es zu IRD.
    Danach die Veränderung des Vokals in den nachfolgenden Vokal, hier von I in ein O, was ORD ergab. „Dir“ mutierte zu „Ord“.
    Oder FÜR = F-ÜR = ÜRF. Aus Ü wird Ä = ÄRF.
    MIT = M-IT = ITM = OTM.
    Der Kuchen ist gut – Ird Chinka sto atg.
    Was für ein Linesisch! Diese Idioglossie beeindruckte ihn tief. Trotzdem wuselte es gehörig hinter seiner Stirn. Buchstaben, Silben und Worte wimmelten wie ein wildgewordener Heringsschwarm umher. Er versuchte Ruhe in das Durcheinander zu bringen. Also ging er das Prozedere noch einige Male durch, um es zu verinnerlichen, wiederholte es in einem fort.
    Verdammt, wie kamen jüngere Kinder auf eine derartig abgefahrene Idee? Wie konnten sie sich das merken? Er wusste es nicht.
    „Kinder, die Schlimmes, wirklich Schlimmes erleben, werden in manchen Dingen schneller reif und können überaus erfinderisch sein“, hatte Marion mal zu ihm gesagt. „Sie entwickeln oft ganz erstaunliche Fähigkeiten und Methoden, um durchzukommen. Überlebensstrategien. Ähnlich wie es in der freien Natur Wildtiere tun.“
    Damals verstand er nicht, wie sie das meinte. Das war nun anders.
    Aber was hatte Lina und Jan dazu gebracht, sich diese Sprache auszudenken? Was trieb einen zu solchem Irrwitz?
    Plötzlich schien ihm der Apfelkuchen im Halse stecken zu bleiben. Er glaubte eigentlich nicht, dass er das noch wissen wollte. Nicht wirklich. Und doch. War er nicht hier, um Lina zum Reden zu bewegen? Ihr Fragen zu stellen und letztlich, um Antworten auf diese Fragen zu bekommen?
    Ja. Sicher.
    Aber etwas hatte sich verändert: die Fragen.
    Er wusste mit einem Mal ohne den leisesten Zweifel, dass es nicht länger nur um Jans Verschwinden ging. Hier lag mehr verborgen. Viel, viel mehr. Vielleicht mehr, als er je erfahren wollte, als sie alle erfahren wollten.
    Hastig räumte Nick auf und flüchtete dann in sein Zimmer, um Musik zu hören.
    Lina sah er an diesem Tag nicht mehr.
    Den Science-Fiction-Roman, den Nick vor dem
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