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Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen

Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen

Titel: Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
Autoren: Sabine Ludwigs
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Einschlafen weiter las, übersetzte er nebenher ins Linesische. Einfach, weil er nicht anders konnte und die Sache ihn nicht zur Ruhe kommen ließ. Ob er nun wollte oder nicht.
    Er staunte, wie leicht das nach einigen Stunden vonstatten ging, wenn man es erst einmal durchschaut und begriffen hatte. Eine reine Übungssache, wie Notenlesen. Und einfacher als eine Fremdsprache, da die Grammatik wegfiel und man sich keine Verbformen einbläuen musste.
    Trotz alledem wollte er sicher sein, bevor er seine Tante und seinen Onkel einweihte. Ganz sicher. Er wollte ihnen Fakten liefern.
    Morgen, nahm er sich vor, morgen gehe ich mit Lina auf die Ferienklippen. Da sind wir ungestört und schauen den Fliegern nach. Und falls ich recht habe – und das habe ich! – wird sie reden.
    Es gab Tage, wie zum Beispiel vor einer schwierigen Mathearbeit, vor denen graute es Nick regelrecht.
    Morgen war so ein Tag.
    Linas letzte Gedanken vor dem Einschlafen
    Heute habe ich Schönes erlebt – und Schreckliches.
    Das Schöne zuerst, Jan: Ich habe Stunden über einem Brettspiel verbracht, mit Marion, Thomas und Nick an einem Tisch gesessen und gespielt, als wäre ich ein ganz normaler Mensch!
    Kannst du dir das vorstellen?
    Mir fällt es jedenfalls schwer zu glauben, dass niemandem aufgefallen ist, wer da mitten unter ihnen ist. Es muss mir doch anhaften wie ein schlechter Geruch!
    Aber im Gegenteil: Nick bringt mir auch noch bei, wie man Gitarre spielt, was mich durch und durch glücklich macht. Eben habe ich noch ein bisschen für mich allein geübt. Da drüben, auf der Kommode neben der Tür, da liegt die Gitarre.
    Und jetzt, jetzt das Schreckliche:
    Nick versteht unsere Sprache. Und er hat erfasst, was das bedeutet, da bin ich sicher: Ich habe die Beklommenheit in seiner Miene gesehen.
    Es bedeutet, dass er mich auf jeden Fall nach unserer Geschichte fragen wird – und er weiß, dass ich ihm antworten werde ohne zu lügen.
    Es bedeutet, dass er die Wahrheit wissen wird und er ahnt voraus, dass es eine hässliche Wahrheit ist. O ja, ich werde seine Fragen beantworten, selbst wenn ich mir dabei das Maul verbrennen sollte. Und das ist es, wovor ich mich fürchte, Jan. Damals wie heute.
    Zum ersten Mal gestorben bin ich mit vier. Genau wie du. Getötet von einem Mann, dem ein Kind weniger am Herzen liegt als sein Ding.
    Aber zuerst, weißt du noch? Zuerst hat er uns mundtot gemacht.
    Es ist, als wäre es erst letzte Woche gewesen, dieser Vatertag im Wald.
    Noch heute fühle ich mich unbehaglich, wenn ich durch einen Wald gehe. Ich höre das Rascheln von Blättern und Reisern unter unseren Füßen, rieche das Grün, Harz und Erde. Und ich sehe Mannis riesige Gestalt bedrohlich bei den Eiben aufragen, Einmalhandschuhe an den Händen.
    „Wer seine Klappe nicht halten kann“, sagte er bei diesem „Spaziergang“ zu dritt, „der verbrennt sich das Maul.“ Blitzschnell bückte er sich. Er rupfte und riss und ehe wir durchschauen konnten, was passieren würde, geschah es bereits. Er stopfte Brennnesseln in unsere Münder, bis die Wangen so prall gefüllt waren, dass sie wie Pfirsiche aussahen.
    Erst bei dir, Jan.
    Dann war ich an der Reihe.
    Gelähmt. O ja, wir waren vollkommen erstarrt. Unsere Arme und Beine bewegten sich nicht, waren steif und brüchig wie morsche Stöcke, weil alles so unfassbar war.
    Unsere Lippen schwollen bis zum Bersten. Und ich hatte das Gefühl, an meiner Zunge zu ersticken. Für den Schmerz in meiner Mundhöhle existierten keine Worte.
    Wir brauchten auch keine.
    Dafür gab es Schreie.
    Und wir schrien!
    Doch er machte weiter, damit wir wussten, wie es sich anfühlte, wenn man sich das Maul verbrannte. Und es unter keinen Umständen vergaßen.
    Danach waren wir gehorsam. Wir haben kein Geschrei mehr von uns gegeben, nicht länger geheult und getan, was man von uns verlangte. Vor allen Dingen wollten wir uns nicht noch einmal das Maul verbrennen.
    Für lange Jahre – die nun zu Ende sind.
    Manni hatte gesagt, es würde ohnehin niemand für bare Münze nehmen, falls wir jemandem erzählen, was er mit uns anstellt. Dass Erwachsene nur Erwachsenen glauben.
    Bei Mama behielt er recht.
    Und bei Oma und Opa.
    Auch bei unserer Nachbarin, Frau Magalski.
    Sogar bei Pfarrer Bäcker.
    Bei Frau Ruprecht, unserer Grundschullehrerin in der ersten und zweiten Klasse, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Immerhin war danach der Mann vom Jugendamt bei uns! Aber der fand dem Vernehmen nach keinerlei Auffälligkeiten, die ihn
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