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Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen

Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen

Titel: Der Sommer mit dem Erdbeermaedchen
Autoren: Sabine Ludwigs
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konnte.
    „Dieses Monster trug eine allzu menschliche Maske. Außer Jan und mir konnte offenbar niemand seine Verkleidung durchschauen. Die anderen sahen den freundlichen Manni von nebenan, der im Sommer die Blumen und Sträucher goss und im Winter Schnee schippte und Vogelhäuschen aufstellte.
    Er war der nette Nachbar, der für die alten Leute die Einkäufe ins Haus trug, der Kindern Süßigkeiten gab und die Kumpels in der „Klause“ zu Bier und Schnaps einlud.“ Sie schüttelte den Kopf, sprach dabei wie zu sich selbst: „Meine Güte, wie oft wollte ich schreien: „Ja seht ihr denn nicht, wie er wirklich ist? Seid ihr blind?“
    Aber ich tat es nicht. Ich hatte zu viel Schiss. Obwohl ich schon lange wusste, was für ein Unmensch er ist. Jan und ich, wir waren gerade vier Jahre alt. Da fing es an.“
    Allem Anschein nach in ihre Erinnerungen verfangen, hielt Lina inne.
    Nick, minutenlang abwartend an ihrer Seite, berührte sie schließlich am Rücken. Als gäbe es da eine Stelle, einen verborgenen Schlüssel wie bei einer Spieluhr, den man bloß aufzuziehen brauchte, damit sie weiterlief. „Ed ongf esw ne – da fing was an?“
    „Das Spielen“, spulte Lina schwach weiter. „In der Badewanne. Am Abend, wenn Mama in der Kneipe war. Das Anfassen. Das Streicheln und Fummeln. Überall.“
    Nick bebte vor Entrüstung. „Wer?“, fragte er, obwohl er die Antwort doch genau kannte. „Etwa dein Stiefvater?“
    „Ja. Manni.“
    „Scheiße. Dieses miese Schwein hat dich missbraucht?“
    „O nein. Nein! Nicht mich. Manni steht auf Jungs, verstehst du?“
    „Du meinst, Manni hat sich an deinem Bruder … er hat sich an Jan vergangen?“
    „Seit er vier Jahre alt war.“ Sie nickte. „Manni hat ihn sich regelrecht zurechtgebogen. Ich war bloß ein Druckmittel, damit Jan stillhielt. Die Pistole auf seiner Brust, wenn du so willst. Einer von Mannis Lieblingssätzen war: „Wenn du nicht spurst, nehme ich mir eben dein Schwesterchen zur Brust.“ – Schon fügte sich Jan. Allein der Gedanke brachte ihn um.
    Ich wollte nicht, dass er mich schützt. Das musst du mir glauben, Nick. Aber Jan tat es trotzdem, sagte, er wäre doch mein großer Bruder … er war neun Minuten älter als ich.“ Sie lächelte ein verlorenes Lächeln. „Dabei kam ich mir vor, wie Mannis miese Helfershelferin! Es war nicht zu ertragen und die Lina, die es vor Manni gegeben hatte, die Lina, die einfach nur Jans kleine Schwester gewesen war, die ist damals gestorben.“
    „Das ist krass!“ Nick fühlte sich noch elender. „Ich finde das so abstoßend, so … so …“
    „Ja. Ich auch. Das Schlimme war, dass wir ganz zu Anfang gar nicht kapierten, was sich anbahnte. Jan fand es sogar schön, wie gern Manni ihn hatte und wie sehr er sich um ihn kümmerte. Ganz anders als unser Vater.
    Jan sollte sich in die Badewanne legen, und Manni kam dazu um ihn zu waschen. So erklärte er es jedenfalls unserer Mutter. Dass nur ein Mann einem Jungen zeigen kann, wie man sich richtig wäscht. Auch da unten. Besonders da. Das wäre genau wie mit dem Rasieren, hat er behauptet. Und dann legte er los.“
    Es kostete Nick enorme Anstrengung, sich weiter auf die Übersetzung von Linas Worten zu konzentrieren, die in ihrer Idioglossie redete.
    „Tirspö gennbi esd Sinkäs“, murmelte Lina. „Später begann das Küssen. Und das Fingerreinstecken. Er verlangte von Jan, dass er ihn auch anfassen sollte, bestand darauf, das müsse so sein zwischen Vater und Sohn.
    Das hat Jan verunsichert und eingeschüchtert. Uns beide. Wir waren ja noch sehr jung. – Und doch lernte Jan, Manni zu küssen und … zu tun, was der sonst mochte. Du weißt schon.“
    Wieder unterbrach Lina sich. Es war, als könnte sie ihre eigenen Worte nicht anhören.
    Und Nick, er konnte es beinahe auch nicht, als sie fortfuhr, die widerlichsten, abstoßendsten Dinge zu schildern, die dieser Dreckskerl einem kleinen Jungen angetan hatte.
    Ihm wurde kalt bis ins Mark. Seine Gänsehaut kroch sogar unter die Zehennägel. Mir wird nie wieder warm werden, dachte er. Nie, nie mehr.
    „Anfangs habe ich oft gebetet. Darum, dass Papa zurückkommt und uns holt. Dass Mama sich ändert und alles besser wird. Sogar um Mannis Tod. Am Ende, ganz am Ende, als sämtliche Hoffnung, es könnte doch noch gut für uns ausgehen, erloschen war, da habe ich nur noch für meinen Bruder gebetet.
    Für Jan, zu klein, zu schmächtig, beinahe ein engelhaftes Geschöpf, das sich kein bisschen wehren konnte gegen die
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