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Der Sommer der Toten

Der Sommer der Toten

Titel: Der Sommer der Toten
Autoren: Michael T. Hinkemeyer
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einordnen konnte, als wären Blick und dahinterliegende Bedeutung aus dem Zusammenhang gerissen. Sein Blick wurde weicher, Papa lächelte.
    »Glaube ja nicht alles, was du zu hören kriegst«, meinte er.
    »Aber Papa, Aggie lügt nicht.«
    »Aggie ist …« Er ließ es unausgesprochen.
    »Was ist mit Mama passiert?«
    »Sie hat einen Schlaganfall erlitten. Das sagte ich bereits.«
    »Aber wie ist es dazu gekommen? Gab es vorher Symptome? Ging es ihr gesundheitlich schlechter?«
    »Der Blutdruck war vielleicht zu hoch, so ähnlich.«
    »Hat sie einen Arzt konsultiert? Warum der hohe Blutdruck?«
    Ben sah weg, zu den vergrößerten Schatten ihrer Köpfe, die an der Wand schwankten, wenn die Flamme aufflackerte.
    »Ich weiß es nicht. Doc Bates auch nicht.«
    »Doc Bates!« rief Katie aus. Ihr fiel seine zotige Bemerkung ein.
    Ihr Vater reagierte nicht.
    »Was sollte das heißen, als Mama zu Aggie sagte: ›Es kann nicht funktionieren?‹ War sie … krank? Hatte sie Sorgen?«
    »Nicht, daß ich wüßte«, sagte Papa und sah sie offen an. Er nahm einen tiefen Schluck.
    »Es kann nicht funktionieren«, wiederholte Katie. »Das muß doch einen Sinn haben.«
    »Sieht aus, als würden wir es niemals erfahren«, meinte Ben. »Falls Mama sich nicht erholt«, setzte er hastig hinzu.
    Katie sah auf. »Sie wird also nicht wieder gesund? Hat dir das dieser Quacksalber und Gesundbeter gesagt?« Sie war wütend. »Er läßt nicht zu, daß sie ißt. Er schläfert sie mit einer Injektion ein …«
    »Schon gut, schon gut. Ärger und Schnaps vertragen sich nicht. Wir werden schon sehen. Und jetzt sage ich dir eines, damit du siehst, daß mir Mama so am Herzen liegt wie dir: Wenn ihr Zustand sich nach einer Woche nicht bessert, werde ich einen anderen Arzt holen. Na, was sagst du jetzt?«
    »Wirklich?«
    Ben nickte. Katie spürte eine Aufwallung der Zuneigung, wie die Heldenverehrung in ihrer Kindheit, als Papa der Stärkste und Klügste war und nichts falsch machen konnte.
    »Ach, Papa.« Impulsiv stand sie auf und gab ihm einen Kuß. Er legte seinen Arm um sie.
    »Eventuell einen Arzt aus der Stadt?«
    »Ja. Wenn es ihr nach einer Woche nicht besser gehen sollte.«
    Katie setzte sich. Sie hatte bemerkt, daß sie nicht mehr sicher auf den Beinen stand. Der Apfelschnaps war stärker, als der Geschmack ahnen ließ. »Oje«, hauchte sie. Und dann: »Papa, wenn du David nur ein wenig besser leiden könntest.«
    Nur ist gut, dachte sie. Wenn sie nur nicht in der Mitte stünde, immer auf dem Sprung und bereit, zwischen den zwei Männern zu vermitteln, die sie liebte – ihren Vater, verbittert, alternd, dessen Selbstachtung einzig auf dem Respekt der Nachbarn, der alten Dörfler beruhte, und darauf, daß Reverend Mauslocher sich auf ihn als das Haupt der Gemeinde stützte; und David, hitzig, intelligent, unsicher, dessen Familie von den Dorfbewohnern nie voll anerkannt worden war, weil sie weder Land besessen noch bearbeitet hatte. Und David im besonderen war es, der Schmähung mit Schmähung vergalt. Die beiden Männer waren Widersacher. Und sie stand in der Mitte.
    Ein schwaches, entferntes Summen klang in ihren Ohren, nein, in ihrem Kopf, und sie konnte nicht genau hören, was er sagte, doch es klang wie: »Wenn David nicht wäre …«
    »Was?«
    »Ich sagte ›Wie ist David eigentlich?‹«
    »Wir sind glücklich, Papa. Nein, wirklich. Er hat sein Examen bestanden und arbeitet jetzt in einer Anwaltspraxis in Minneapolis.«
    »Aus den Fugen geratene Kuhstadt«, brummte Ben. »Hätte lieber so bleiben sollen, wie es war.«
    »Papa, siehst du nicht ein, daß es besser wäre, wenn wir alle versuchten, miteinander auszukommen?«
    Ben überlegte. Er sagte nichts, aber sie ahnte, was er sich dachte. Davids Familie, die Ellenwoods, hatten niemals Land besessen und hatten daher keinen Anteil an dem geheiligten Band zwischen Mensch und Erde. Sie waren niemals Teil der Gemeinde, der alten Sitten gewesen. Tatsächlich war es so, daß David hier keine Familie mehr hatte: seine Mutter war vor Jahren gestorben, und sein Vater, der in einem Sägewerk bei St. Cloud gearbeitet hatte – »elende Taglöhnerarbeit« hatte Reverend Mauslocher es genannt –, war ebenfalls gestorben, wenige Jahre vor Katies und Davids Heirat. Schlimmer noch, David hatte dem alten Ben das einzige Kind genommen, es dem Dorf und der heiligen Erde entzogen. Und das war etwas, was man nicht durfte. Jemandem sein Kind abspenstig machen, sei es durch Sex, durch Überredungskünste
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