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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge
Autoren: Adriana Lisboa
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taten sie zwei Löffelchen Earl Grey in den Kessel und gossen das Getränk später durch ein Sieb.
    Auf dem Boden der Veranda sitzend, schwiegen sie eine Weile. Selbst um diese Zeit war es noch heiß. Selbst hier draußen. Dann beantwortete Tomás die Frage, die Clarice nicht ausgesprochen hatte.
    Sie war hier, ja. Aber es war nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Wir selbst sind dafür verantwortlich, welche Rolle die anderen in unserem Leben spielen. Und die Menschen ändern sich, auch wenn sich die Bedeutung, die sie einmal für uns hatten, nicht ändert. Das ist ungefähr so, als ob wir uns an eine Stadt erinnern, die wir vor vielen Jahren gekannt haben und die nicht mehr existiert. Sie ist vom Krieg oder von einem Erdbeben zerstört worden. Es gibt keine Möglichkeit mehr, die Erinnerung zu verändern, sie der Gegenwart anzupassen.
    Clarice rührte mit dem Löffel in ihrer Tasse. Dann gestandsie: Am Anfang hat mir der Gedanke nicht gefallen, dass sie kommt.
    Mir auch nicht. Aber das war unser Fehler, weil wir sie für zu vieles verantwortlich gemacht haben.
    Und Eduarda?
    Ich hätte mich eher für sie interessieren sollen, aber die Dinge laufen nun mal nicht so planmäßig wie in einem Drehbuch.
    Sie blickten in Richtung des Berges, den die Nacht schwarz gefärbt hatte. Und dann gestand Tomás, dass er sogar schreckliche Angst vor Maria Inês ’ Kommen gehabt hatte. Angst vor ihrer körperlichen Präsenz. Wie ein Alkoholiker, der seit Jahren abstinent ist und sich bei einem vornehmen Fest plötzlich einem Glas Whisky gegenübersieht. Angst vor seiner Leidenschaft. Wenn diese Leidenschaft auch noch immer ein Teil von ihm, von seinem Leben war, so existierte das Objekt dieser Leidenschaft nur mehr in der Vergangenheit. Tatsächlich verließ er Maria Inês in dieser Nacht. Jahrzehnte nachdem sie ihn verlassen hatte.
    Er sah Clarice an. Dann fragte er: Erinnerst du dich, wie viele Jahre ich schon hier lebe?
    Nein, antwortete sie.
    Ich auch nicht. Ich weiß es nicht mehr.
    Sanft legte Tomás die Hand auf Clarices Schulter, auf das dunkelblaue Kleid mit den hellblauen Blumen. Sie lächelte nicht. Unweit von ihnen rief eine Eule. Clarices Haut unter dem Stoff war ein ganz neuer Kontinent. Tomás nahm die kleine Unendlichkeit zur Kenntnis, dieverstrich, bis ihr Arm seinen Arm, seinen Rücken berührte. Dann legte sie ihre Stirn an sein Gesicht.
    Das gründliche Vergessen gab es nicht. Clarice wusste es. Nie war sie in der Lage gewesen, es zu formen, es für sich zu fordern. Es gab auch keine harmlose Erinnerung, keine endgültig vernarbte Wunde. Kein Raubtier ohne Krallen und Zähne, das einfach nur da war. Die Vergangenheit mit allem, was sie bedeutete, dauerte fort. Clarice erinnerte sich an eine Stadt, die vom Krieg oder von einem Erdbeben zerstört worden war. Mittlerweile standen neue Bauten, die Trümmer waren beseitigt und die Toten begraben. Aber wie sollte sie die Erinnerung verändern, wie sollte sie sie der Gegenwart anpassen?
    Ihre Lippen und seine Lippen wussten nicht recht, wo sie beginnen sollten, und so begannen sie bei sich selbst. Mit dem Atem, der der Anfang von allem ist.
    Jetzt spürt Clarice seinen Atem in ihrem Nacken. Einen schweren, drängenden, zugleich aber gelassenen Atem. Jetzt hält sie seinen Kopf mit beiden Händen wie den einer Skulptur, und ihre Finger zupfen an seinen grauen Haaren. Ganz sanft. Jetzt finden seine Lippen den Weg zu ihrem Kinn, zu ihrem Hals. Jetzt berührt Tomás sanft (ganz sanft) mit beiden Händen ihre Brüste wie die einer Skulptur. Jetzt knöpft sie sein Hemd auf und entdeckt seine schmale Brust – die nicht mehr ganz so schmal ist wie früher, mit zwanzig Jahren. Jetzt küsst sie ihn, dort, wo sie seinen Herzschlag spüren kann. Schnell. Schneller. Jetzt knöpft er das Kleid auf und zählt die Knöpfe – 1, 2,3, 4, 5. Jetzt blickt sie in den weiten Himmel und zu den Bergen, während die träge Nachtluft ihre nackte Haut umspielt und er sie dort küsst, wo sie ihn nicht erwartet, wo sie nicht auf ihn vorbereitet ist.
    Jetzt gleitet ihre Hand über seine Hose. Seine Schenkel. Seine Hüften. Jetzt streichelt sie erneut die grauen Haare, und er entdeckt das Tal ihres Leibes. Jetzt lässt sie ihn aufstehen und öffnet den Reißverschluss seiner Jeans.
    Jetzt richtet er sie auf und bringt sie dazu, sich auf die Bank auf der Veranda zu setzen. Auf die Kante. Doch es handelt sich nicht um einen Altar, sondern um eine Frau. Er vergräbt sein Gesicht in ihrem Haar,
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