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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge
Autoren: Adriana Lisboa
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der Nacht, während sie die Pendeluhr im Wohnzimmer jede volle Stunde schlagen hörte, hatte Maria Inês also Gelegenheit, eine Bestandsaufnahme ihres Lebens zu machen. Sie war sich fast sicher, dass sie nie wieder von Bernardo Águas träumen würde, jenem Kommilitonen, der sie nach dem Studium – seine Karriere als Arzt hatte er zugunsten einer anderen, internationalen als Sänger ( Si ch’io vorrei morire ) an den Nagel gehängt – einmal angerufenhatte, um Neuigkeiten auszutauschen, und ihr Geliebter geworden war. Nach den Smaragdringen. Nach Venedig. Lange nach Tomás. Der Mann, der in ihr eine statistische Größe sah, eine farbige Nadel auf der Weltkarte. Ihr falscher Zufluchtsort. Ihr schlimmster Gemeinplatz.
    Jetzt geht Maria Inês barfuß durch das Gras. Langsam. Sie spürt eine zarte Präsenz: die Seele der Welt. Anima mundi . Sie geht bis zu dem Pool aus Zement, der leer vor sich hin dämmert und auf dessen rissigem Grund Farne wachsen. Früher ist sie hier geschwommen. Als sie noch ein Kind war und sechs oder sieben Züge brauchte, um ihn zu durchqueren. In diesem Pool hat sie gelernt, die Augen unter Wasser zu öffnen und zu tauchen, ohne die Nase mit Daumen und Zeigefinger wie mit einer Pinzette zuhalten zu müssen. Hier hat sie gelernt, unter Wasser Überschläge zu machen: vorwärts und, schwerer noch, rückwärts. Sie blickt auf den Grund des Beckens und auf die Farnblätter, die sich entrollen wie Möglichkeiten von Zukunft. Aber auch wie Unmöglichkeiten.
    Heißt sein gewesen sein ? Ein Teil von Maria Inês ist Erinnerung. Die Erinnerung ist in ihrem Körper lebendig und klingt in allen ihren Sinnen wider.
    Doch am Ende hat die Reise keine Überraschungen für sie bereitgehalten. Was bedeutet sie einer Schwester noch und einer einstigen Liebe, die wie Gespenster am helllichten Tag auf dieser Fazenda ihrer Vergangenheit spazieren gehen?
    Nichts übertrifft die Wahrheit. Und wenn man tausendundeinMärchen erfände. Letztlich ist das Leben Mathematik – mit ungewöhnlichen Rechenoperationen, bei denen unwahrscheinliche Ergebnisse herauskommen. Bei denen Dividend und Divisor bisweilen eine Subtraktion oder Multiplikation verlangen. Mathematik: Achilles und die Schildkröte. Sie denkt an die Speisung der Fünftausend. Dann ist sie der Metaphern müde und erinnert sich an einen Cousin zweiten Grades und an einen honigfarbenen See, an dem ringsum Schmiedefrösche hämmern und an dessen Ufer sich eine Gruppe Enten versammelt. Libellen summen über die Wasseroberfläche, und der Gesang der Nachtvögel mischt sich mit dem einiger verspäteter Tagvögel, die anscheinend Überstunden machen. Sonderschicht.
    Maria Inês weiß, dass Clarice einen großen Teil der Nacht unterwegs war. Es ist nicht schwer zu erraten, wo und mit wem. Doch sie kann keine Vorhersagen treffen. Auch nicht für sich selbst. In Wahrheit gibt es keine vergangenen oder zukünftigen Jahre, über die man Buch führen könnte. Und nichts Neues. Nichts Neues. Trotzdem ist alles neu. Fiat lux .
    Sie schlägt den Weg ein, der am Pool und an einigen Weinspalieren mit Chayote vorbeiführt. Clarice hat Chayotesträucher gepflanzt. Und die kleinen Tomaten, die man im Ganzen isst und die so angenehm zwischen den Zähnen zerplatzen. Dann entdeckt sie die Eukalyptusbäume wieder, die zwei oder drei Jahrzehnte zuvor gesprossen sind. Bromelien haben sich ausgebreitet. Junge Pflanzen sind gewachsen und alte abgestorben. Auf demGipfel eines kahlen Berges, wo früher ein riesiger Ipêbaum wuchs, steht ein abgebrochener schwarzer Stumpf.
    Maria Inês geht den schmalen Pfad entlang, der an der Fernstraße endet. Sie hat kein bestimmtes Ziel im Kopf, sie setzt einfach nur einen Fuß vor den anderen. Später wird sie zum Haus zurückkehren, zum Frühstück und zu allem anderen. In diesem Moment aber blickt sie nicht hinter sich und spürt die emporsteigende Sonne auf ihren Schultern.
    Der schlaftrunkene Morgen steigt als Staub von der Straße auf. Alles ist still oder fast still, während ein Mann mit weit geöffneten, hellen Augen vorgibt, seine Gedanken ganz auf die Straße zu richten. In Wahrheit hat Tomás seinen Entschluss schon gefasst. Aber er wartet, denn es ist noch früh, und er kennt die der Jugend so liebe Gewohnheit, erst gegen Mittag aufzustehen. Er erinnert sich an seine eigene Jugend. Daran, wie es war, zwanzig zu sein, und an seine eigenen mittäglichen Morgen.
    Er wartet. Zündet sich eine Zigarette an, raucht. Begrüßt mit einem Nicken
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