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Der Sommer der Schmetterlinge

Der Sommer der Schmetterlinge

Titel: Der Sommer der Schmetterlinge
Autoren: Adriana Lisboa
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mochte: Gut so.
    Clarice empfand kein Bedauern, eher eine gewisse Fremdheit, so als sähe sie einen Film, während sie sich von Maria Inês den Steinbruch hinunter und den Berg hinab führen ließ, durch das Wäldchen und über die Weide, auf der die Kühe wiederkäuten und die Zecken warteten.

DIE OFFENE TÜR
    Die Dinge wirken weniger verheerend, wenn man sie aus der Nähe gesehen hat. Sie verlieren ihren Heiligenschein, werden gewöhnlich, alltäglich, und es verringert sich auch die Distanz zwischen ihnen selbst und der Vorstellung, die man sich von ihnen macht.
    Tomás hatte keine Ahnung, wohin ihn diese offene Tür führen würde, aber er besaß einen unerschütterlichen Glauben an den freien Willen. Deshalb erschrak er nicht. Er kannte seine eigenen Schritte und tat sie in der gleichen Weise wie ein Arrangeur, der Akkorde für ein bestimmtes Lied auswählt, Instrumente, um diese Akkorde zum Klingen zu bringen, und Musiker, um diese Instrumente zu spielen. Er kannte sein eigenes Maß.
    Und so näherte er sich dem Haus. Die beiden Schwestern saßen auf der Veranda, im milden Dämmerlicht, das einen traumartigen Schleier über alles legte. Damit endete der kürzeste Tag dieser Geschichte, nach einer langen, fast unüberwindlichen Nacht. Tomás wusste nicht, ob es zwischen beidem einen Zusammenhang gab.
    Während sie sich erhob, um ihn zu begrüßen, sagte Maria Inês: Da sehen wir uns nun also hier wieder.
    Sie wirkte herzlich. Sympathisch.
    Eine ziemlich unwahrscheinliche Begegnung, sagte erund erinnerte sich bei ihrem Anblick spontan an den Schmuck vom Hippie-Markt, den sie vor zwanzig Jahren immer getragen hatte.
    Vielleicht doch nicht ganz so unwahrscheinlich, meinte sie.
    Jetzt war ihr Hals nackt, nüchtern. Tomás spürte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog. Dann aber entspannte er sich wieder.
    Clarice erwiderte seinen Gruß und schwieg. Beobachtete.
    Alles mündete in diesen Ort und in diesen Moment. All die gelebten Jahre. Alles, was in diesen Jahren gefehlt hatte, und alles, was in ihnen zu viel gewesen war. Die Gefahren und die Versprechen. Die Liebe, die unbemerkt gereift war, und das Grundmuster, das unverändert überdauert hatte.
    Maria Inês sah Tomás’ helle Augen, ein in der Dämmerung entzündetes Wunder. Clarice sah sie ebenfalls, es war unvermeidlich, denn sie leuchteten. Leuchtfeuer. Glühwürmchen. Sterne.
    Eduarda hat sich ein bisschen hingelegt, sagte Maria Inês. Wir sind früh aufgestanden, wegen der langen Fahrt.
    Da erhob Clarice sich langsam. Ich habe drinnen noch ein paar Dinge zu erledigen. Ihr wollt euch bestimmt allein unterhalten. Nach all den Jahren.
    Sie ging ins Haus, wo plötzlich die Nacht hereinzubrechen schien. Weder Leuchtfeuer noch Glühwürmchen gab es hier. Clarice überlegte, was sie tun konnte. Ein Glas Wasser trinken. Das Essen inspizieren, das Fátima in ihrerliebenswürdigen Art für das gemeinsame Abendmahl bereitgestellt hatte. Das Gesicht erfrischen und die Hände waschen. Sich selbst im Spiegel betrachten und die Unruhe darüber besänftigen, dass sie auf ihrem Weg durchs Leben viele Spuren und nur wenige Früchte hinterlassen hatte. Durch die Hintertür aus dem Haus gehen und den Weg zum Stall einschlagen, um die alten Skulpturen zu betrachten, die dort in den Tiefen eines Schranks lagerten wie in einem Museum. Dann den Schrank schließen und sie bis zu einer anderen Gelegenheit warten lassen, ihre alten Skulpturen.
    Ihren eigenen Zustand in einem Winkel ihrer Seele unter Verschluss lassen, wie in einem Museum.
    Warten.
    Dass es vollständig Nacht wurde und danach wieder Tag und dann wieder Nacht. Gab es sonst nichts mehr zu entdecken, keine Offenbarung? Clarice verbrachte ihr Dasein mit Warten und schuf unterdessen Skulpturen, weil es tatsächlich gleichgültig war, ob sie sie schuf oder nicht.
    Mit einer ungewohnten Neugier stellte sie sich jedoch plötzlich vor, was Tomás und Maria Inês wohl zueinander sagten. Ob sie über Belanglosigkeiten redeten: Arbeit, Alter, Aussehen, Wetter, Reisen. Ob sie sich in äußerster Verlegenheit anschwiegen. Ob sie als Einleitung scherzhafte Bemerkungen austauschten. Als Einleitung wozu? Zu eindeutiger Verführung? Oder ob sie heimlich übereinkamen, zwanzig Jahre in der Zeit zurückzuspringen ( die Zeit steht still, aber die Lebewesen ) und ihre Geschichtegenau an dem Tag wiederaufzunehmen, an dem sie sich zum letzten Mal gesehen und geliebt hatten.
    Dem Tag, an dem Maria Inês mit ihrer Tochter schwanger
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