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Der Sohn des Sehers 01 - Nomade

Titel: Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
Autoren: Torsten Fink
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sicher, ob das sein letzter Herzschlag war oder ob es wirklich donnerte. Er öffnete die Augen wieder. Da stand Merege, totenbleich, die Augen leuchtend weiß, und die schwarzen Haare flatterten im Zentrum eines Sturms, den sie selbst entfesselt zu haben schien. Die Wände wankten, Knochen wurden umhergewirbelt, und dann zerriss ein gleißender Blitz die Kammer. Awin schloss geblendet die Augen. Er spürte die ungezügelte Gewalt, die an ihm zerrte und zog. Er keuchte, hustete Blut. Dann kam der Schrei. Er war lauter als der Donner, viel lauter, und so durchdringend, dass Awin meinte, er würde ihn in der Mitte auseinanderreißen. Er schluckte Sand, hörte Winde brüllen und Menschen schreien. Er hob abwehrend die Hand, und für einen Augenblick war ihm, als würde er dort, inmitten des Sturms, Isparra sehen, die ihn aus leeren Augen ansah. Aber dann kam eine Sturmböe, packte die Frau mit roher Gewalt und riss sie fort, als sei sie nur eine Statue aus Staub. Noch einmal donnerte es, der Boden schwankte - und dann war es endlich still. Awin spürte eine sanfte Last, die sich über ihn legte, ihn zudeckte und langsam, ganz langsam begann, ihn zu erdrücken. Die Kälte wich aus seinen Gliedern, eine ungeheure warme Müdigkeit breitete sich in ihm aus. Er wäre sofort eingeschlafen, wenn er nicht ein seltsames Brennen in der Lunge gespürt hätte.
    »Ich habe dich lange nicht gesehen, mein Junge«, sagte eine vertraute Stimme.
    Awin öffnete die Augen. Er war an einem langen grauen Strand. Im Hintergrund ragten Berge in den Himmel. Aber wo war das Meer?
    »Ihr habt es geschafft, denke ich«, sagte Senis. Es war die
junge Senis, die große, hochgewachsene Frau, die Merege so ähnlich sah.
    »Was?«, fragte Awin verständnislos.
    »Du solltest dennoch aufstehen. Denn sonst wirst du schnell das finden, was ich schon so lange vergeblich suche. Und du musst gehen. Sag ihr, dass sie ihn nicht behalten darf. Er ist gefährlich! Sag ihr das!«
    »Gehen? Ich bin doch gerade erst angekommen«, widersprach Awin.
    Senis runzelte die Stirn. »Du bist noch lange nicht angekommen, junger Seher«, sagte sie und gab ihm einen kräftigen Stoß.
     
    Awin stürzte und schlug dumpf im Sand auf. Er wollte die Augen öffnen, aber er konnte es nicht. Er öffnete den Mund und schluckte Sand. Der Kampf. Die Schlangen. Currus verzweifelter Schrei. Merege und das Licht. Er war im Sand gefangen! Die Decke musste eingestürzt sein. Panisch begann er zu strampeln. Er kämpfte, seine Lungen brannten. Dann spürte er, dass seine Hand plötzlich frei war. Er streckte sich, bäumte sich auf und stieß mit dem Kopf durch die Oberfläche. Gierig sog er die Luft ein, schluckte Staub, spuckte ihn wieder aus und kam langsam auf die Knie. Seine Augen brannten. Um ihn herum lagen Knochen verstreut, und über ihm leuchtete der volle Mond. Er hustete sich die Seele aus dem Leib. Der Schmerz in seiner Seite! Da hatte ihn die Schlange erwischt.
    »Hilf mir, Awin!«, rief eine helle Stimme.
    Awin blinzelte und erkannte die Umrisse von Merege, die offensichtlich versuchte, etwas aus dem Sand zu ziehen. Er kroch zu ihr. Da ragte ein Büschel Haare heraus. Er tastete sich durch den Sand vor und bekam eine Schulter zu fassen. Gemeinsam zerrten sie Eri an die Oberfläche.

    »Ist er …?«, fragte eine heisere Stimme.
    Awin drehte sich um. Curru stand dort, auf einen zerbrochenen Speer gestützt, staubbedeckt im hellen Mondlicht.
    Merege schüttelte den Kopf. »Der Knabe wird es überleben«, sagte sie.
    »Wo ist der Sand?«, fragte Curru.
    »Meister Curru, du lebst?«, fragte Awin, der endlich seine Verblüffung überwand.
    »Enttäuscht?«, fragte Curru verbittert.
    »Ich … ich sah dich fallen«, erwiderte Awin lahm. Aber er war erleichtert. Merege hatte es also geschafft, sie zu retten, ohne den Alten zu töten. Aber was meinte Curru mit dem Sand? Er blinzelte noch einmal. Allmählich sah er besser. Er sah die Mauerreste der Kammer, dahinter ragten weitere Ruinen aus dem Boden. Knochen schimmerten bleich im Mondlicht. Ein starker Wind blies. Es war kalt.
    »Westwind«, meinte Curru. »Du kannst den Dhanis schmecken.«
    »Aber wir sind doch in der Slahan, in Uos Mund. Da kommt der Westwind nicht hin«, widersprach Awin.
    »Ist das so, Awin?«, fragte Curru.
    Awin schüttelte sich den Staub aus den Haaren und stand auf. Der Himmel war sternenklar, und der Mond leuchtete. Etwas stimmte nicht. Awin runzelte die Stirn und sah sich um. Da waren die Ruinen, Mauerreste,
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