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Der Sohn des Azteken

Der Sohn des Azteken

Titel: Der Sohn des Azteken
Autoren: Gary Jennings
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meine Mutter schluchzte ein einziges Mal. Trotzdem gab es Geräusche. Ich kann immer noch hören, wie er brennt. Zu den Geräuschen gehörten das vertraute Knistern und Prasseln von Holz, das seinen Zweck als Brennmaterial erfüllte, das gierige Züngeln und Lecken der Flammen, das Zischen, als die Haut des Mannes Blasen warf, die sofort platzten, das Knacken und Brutzeln seines Fleischs, das Blubbern, mit dem sein Blut verdampfte, das Knallen und Knirschen, mit dem sich seine Muskeln in der Hitze ruckartig zusammenzogen und ihm die Knochen im Leib brachen, und gegen Ende das unbeschreiblich erschreckende Geräusch, mit dem sein Schädel durch den Druck des kochenden Gehirns barst. Inzwischen rochen wir auch, daß er brannte. Der Geruch von menschlichem Fleisch ist zunächst so köstlich und appetitlich wie der von jedem anderen Fleisch, das richtig gebraten wird. Doch in diesem Fall wurde daraus ein Verbrennen, und bald hing in der Luft der Gestank von verkohltem, rauchendem Fleisch, zu dem sich der ranzige Geruch des Fettes gesellte. In diesen Gestank mischte sich der beißende Qualm des schwelenden Gewandes sowie ein flüchtiger, aber scharfer Geruch, als seine Haare aufflammten. Erst nach einer Weile erreichte uns in Wellen ein scharfer metallischer Gestank, als die Kette Feuer zu fangen schien, ein seltsam staubiger Geruch von Knochen, die sich in Asche verwandelten.
    Da der Mann am Pfahl die verschiedenen Dinge, die mit ihm geschahen, ebenfalls sehen, hören und riechen konnte, begann ich zu überlegen, was wohl in seinem Kopf vorgehen mochte. Kein Laut kam über seine Lippen, aber er mußte doch bestimmt etwas denken. Woran mochte er denken?
    Bedauerte er Dinge, die er getan oder nicht getan und die zu diesem schrecklichen Ende geführt hatten? Oder verweilte er bei den kleinen Freuden oder sogar Abenteuern, die manchmal sein Leben verschönt hatten? Dachte er an geliebte Menschen, die er zurückließ? Nein, bei seinem Alter hatte er bis auf mögliche Kinder und Enkelkinder vermutlich alle überlebt. In seinem Leben mußte es Frauen gegeben haben. Selbst im Alter, als man ihn zum Pfahl führte, hatte er gut ausgesehen. Und er war diesem erschreckenden Schicksal furchtlos und ungebeugt entgegengegangen. Er mußte einmal ein bedeutender Mann gewesen sein. Lachte er vielleicht insgeheim trotz der unerträglichen Qualen über die Ironie, daß er einmal groß und mächtig gewesen war und an diesem Tag so tief hinabgestürzt und gedemütigt wurde?
    Welcher seiner Sinne, fragte ich mich, versagte als erster? Hielt sein Sehvermögen lange genug an, damit er die Henker und seine Landsleute sah, die sich auf dem Platz drängten? Überlegte er, was die Lebenden angesichts seiner Qualen dachten? Vermochte er zu sehen, wie seine Beine schrumpften, verkohlten und sich, während er von der Kette gehalten in der Luft hing, vor dem Unterleib verkrümmten? Seine Arme schrumpften ebenfalls, verkohlten und legten sich vor die Brust, als versuchten die Gliedmaßen, den Körper zu schützen, dem sie ein Leben lang treu gedient hatten. Oder waren seine Augäpfel in der Hitze inzwischen geplatzt, so daß es für ihn kein Licht und kein Sehvermögen mehr gab, mit dem er das alles hätte beobachten können?
    Verfolgte er demnach blind mit Hilfe der Geräusche und Gerüche seine unbarmherzige Vernichtung? Oder spürte er diese Dinge nur? Wenn ja, empfand er sie als einzelne, deutlich unterscheidbare Schmerzen oder nur als eine dumpfe, überwältigende Qual?
    Selbst nachdem ihm das Sehvermögen, Hörvermögen, der Geruchssinn und, wie ich hoffte, der Gefühlssinn genommen waren, blieb ihm eine Zeitlang immer noch das Bewußtsein. Dachte er bis zum Ende? Fürchtete er die endlose Nacht und das Nichts von Mictlan, der Unterwelt? Oder träumte er von einem neuen und ewigen Leben im hellen, reichen und glücklichen Land des Sonnengottes Tonatiu? Versuchte er möglicherweise verzweifelt, ein wenig länger die Erinnerungen an diese Welt und das Leben hier festzuhalten, an all das, was ihm am wertvollsten gewesen war? An die Jugend, an den Himmel und das Sonnenlicht, an Zärtlichkeiten, an kleine und große Taten, an Plätze, die er einmal besucht hatte und nie mehr besuchen würde? War es ihm gelungen, diese Gedanken und Erinnerungen fieberhaft als einen letzten kleinen Trost bis zu dem Augenblick festzuhalten, als sein Kopf in tausend Stücke zersprang und alles zu Ende war?
    Ich glaube, falls das Schauspiel in der Tat als eine lehrreiche
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