Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sohn des Azteken

Der Sohn des Azteken

Titel: Der Sohn des Azteken
Autoren: Gary Jennings
Vom Netzwerk:
sein. Danach nahmen Mixtzin, Cuicáni und ich ohne weitere Umstände und ohne jedes Zeremoniell Abschied und schlugen den Weg nach Süden ein.
    Ich verließ den Ort meiner Geburt zum ersten Mal, um eine weite Reise zu unternehmen. Mir war der ernste Anlaß unseres Unternehmens deutlich bewußt, doch der weite Horizont schien verlockend wie ein freundliches Lächeln. Die Ferne lud mich verheißungsvoll ein, alle möglichen neuen Dinge zu sehen und vielfältige Erfahrungen zu machen. Der Tag in Aztlan begann immer spät, denn nachdem die Sonne aufgegangen war, mußte sie zuerst über die Berge im Inland steigen und hoch am Himmel stehen. Aber dann tauchte sie unsere Stadt in ein strahlendes Licht. Nachdem ich diese Berge überquert hatte und mich im flacheren Land östlich davon befand, konnte ich zum ersten Mal erleben, wie der Morgen graute oder genauer gesagt, wie sich ein farbiges Band nach dem anderen über den Himmel legte – violett, blau, rosa, perlweiß und gold. Bald darauf begannen die Vögel jubilierend den Tag zu begrüßen. Sie sangen Lieder in allen Tönen. Es war Herbst, und deshalb fiel kein Regen. Doch der Himmel hatte die Farbe des Windes, und die Wolken, die über ihn zogen, sahen immer gleich aus, waren aber immer andere. Die rauschenden, tanzenden Bäume machten Musik für die Augen, und die sich wiegenden, sich neigenden Blumen wurden zu Gebeten, in einer Sprache, die sie in ihrer ganzen Schönheit verkörperten. Wenn sich die Abenddämmerung über das Land senkte, schlossen sich die Blumen, doch am Himmel öffneten sich die Sterne. Ich war immer froh, daß sich die Sternenblumen außer Reichweite der Menschen befinden, denn sonst wären sie schon lange gepflückt und gestohlen worden. Bei Einbruch der Dunkelheit stiegen schließlich sanfte, taubengraue Nebel auf. Ich glaube, sie sind die dankbaren Seufzer der Erde, die müde zu Bett geht.
    Es war eine lange Strecke – über zweihundert Lange Läufe, denn wir konnten selten den geraden und direkten Weg nehmen. Manchmal war die Reise mühsam und oft ermüdend, aber nie wirklich gefährlich, denn Mixtzin hatte die Strecke schon einmal zurückgelegt. Das war vor etwa fünfzehn Jahren gewesen, doch er erinnerte sich noch an die kürzesten Routen durch die glühend heißen Wüstenabschnitte und an den einfachsten Weg um den Fuß der Berge, so daß wir nicht darübersteigen mußten. Er kannte die flachen Stellen, wo wir durch die Flüsse waten konnten und nicht lange warten oder vergebens hoffen mußten, daß jemand in einem Acáli vorbeikommen werde. Oft waren wir jedoch gezwungen, von den Pfaden abzuweichen, an die er sich erinnerte, um vorsichtig die Abschnitte von Michihuácan zu umgehen, wo immer noch, wie uns die Bewohner der Gegend sagten, die unerbittlichen Caxtiltéca und die stolzen, hartnäckigen Purémpecha miteinander kämpften. Als wir im Land der Tecpanéca schließlich hin und wieder einem weißen Mann begegneten und den Tieren, die ›Pferde‹, ›Kühe‹ und ›Bluthunde‹ genannt wurden, taten wir unser Bestes, um gleichgültig zu wirken, als seien wir ein Leben lang an ihren Anblick gewöhnt. Den Weißen schien unser Vorübergehen ebenso gleichgültig zu sein. In ihren Augen schienen wir nichts anderes als gewöhnliche, allgemein verbreitete Tiere zu sein. Unterwegs wies Onkel Mixtzin meine Mutter und mich immer wieder auf besondere Wahrzeichen hin, die er von seiner früheren Reise her kannte – seltsam geformte Berge, Seen, deren Wasser so bitter war, daß man es nicht trinken konnte, aber so heiß, daß es sogar in der Sonne dampfte, Bäume und Kakteen, wie sie in unserer Heimat nicht wuchsen und von denen einige köstlich schmeckende Früchte trugen. Außerdem erzählte er viel von den Schwierigkeiten jener ersten Reise nach Tenochtitlan, obwohl wir die Geschichten bereits mehr als einmal gehört hatten.
    »Ihr wißt, daß meine Männer und ich die riesige, runde gemeißelte Steinplatte mit dem Bildnis der Mondgöttin Coyolxauqui nach Tenochtitlan gerollt haben, um sie dem Verehrten Sprecher Motecuzoma zum Geschenk zu machen. Ja, die Platte war rund, und man sollte annehmen, daß sie mühelos gerollt wäre. Aber sie war auch auf beiden Seiten flach. Deshalb ist sie bei jeder leichten Vertiefung in der Erde oder einer Unebenheit, die wir nicht bemerkten, umgekippt. Obwohl meine Männer kräftig und ganz bei der Sache waren, konnten sie nicht immer verhindern, daß der kippende Stein auf der Seite zu liegen kam. So ungern
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher