Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sohn des Azteken

Der Sohn des Azteken

Titel: Der Sohn des Azteken
Autoren: Gary Jennings
Vom Netzwerk:
mißtrauisch an und sagte zögernd: »Tene, du hast dort auf dem Platz geseufzt und geschluchzt. Was um alles in der Welt kann dir dieser Mann bedeutet haben?«
    »Ich habe ihn gekannt.«
    »Wie ist das möglich, liebe Tene? Du bist nie zuvor in dieser Stadt gewesen.«
    »Nein«, erwiderte sie. »Aber er war vor langer Zeit einmal in Aztlan.«
    »Auch ohne das gelbe Auge«, sagte mein Onkel, »hätten Cuicáni und ich ihn erkannt.«
    »Das gelbe Auge?« wiederholte ich. »Meinst du das?« Ich zog den Kristall hervor, den ich in der Asche gefunden hatte.
    »Ayyol« rief meine Mutter erfreut. »Eine Erinnerung an den lieben Toten.«
    »Wieso hast du das ein ›Auge‹ genannt?« fragte ich Onkel Mixtzin. »Und wenn dieser Mann nicht, wie die Spanier behaupten, Juan Damasceno gewesen ist, wer war er dann?«
    »Ich habe dir oft von ihm erzählt, Neffe, aber wahrscheinlich habe ich vergessen, das gelbe Auge zu erwähnen. Er war dieser fremde Mexicatl, der nach Aztlan kam und, wie sich herausstellte, denselben Namen trug wie ich, nämlich Tliléctic-Mixtli. Er hat mir nahegelegt, die Wortkunde zu erlernen. Er war auch dafür verantwortlich, daß ich später den Mondstein hierher gebracht habe und daß mich unser Uey-Tlatoáni Motecuzóma empfing und mir die Krieger, Künstler, Lehrer und Handwerker anvertraute, mit denen ich nach Aztlan zurückkam …«
    »Natürlich erinnere ich mich daran, daß du das erzählt hast, Onkel. Aber was hat das gelbe Auge damit zu tun?«
    »Ayya, der arme Cuati Mixtli hatte ein Leiden, eine Sehschwäche. Was du da in der Hand hältst, ist eine Scheibe aus gelbem Topas, die auf besondere, vielleicht magische Weise geschliffen und poliert wurde. Der andere Mixtli hat sie sich immer ans Auge gehalten, wenn er etwas klar und deutlich sehen wollte. Doch die Sehschwäche hat ihn nie von seinen Abenteuern und Forschungen abgehalten. Wenn ich so sagen darf, hat sie ihn zumindest im Fall von Aztlan nicht daran gehindert, gute und große Taten zu vollbringen.«
    »Das kannst du wirklich sagen«, murmelte ich beeindruckt. »Und wir sollten um ihn trauern. Diesem Mixtli haben wir viel zu verdanken.«
    »Du, Tenamáxtli, sogar noch mehr als alle anderen«, flüsterte meine Mutter. »Mixtli war dein Vater.« Ich stand stumm und wie vom Donner gerührt da. Eine Ewigkeit lang konnte ich nur auf den Topas in meiner Hand starren. Es war die letzte Erinnerung an den Mann, der mich gezeugt hatte. Obwohl ich zu ersticken glaubte, stieß ich schließlich hervor. »Warum stehen wir dann einfach hier herum? Wollen wir nichts tun? Soll ich, sein Sohn, nichts tun, um den grausamen Tod meines Vaters an seinen Mördern zu rächen?«
     
     

3
     
    Zu jener Zeit lebten in Aztlan immer noch viele Menschen, die sich an den Besuch des Mexicatl erinnerten. Er trug den Namen Tliléctic-Mixtli, ›Dunkle Wolke‹. Natürlich erinnerten sich auch Onkel Mixtzin und seine Kinder Yeyac und Améyatl daran, obwohl die beiden damals noch klein gewesen waren. Ihre Mutter, die Frau meines Onkels, die als erste der Azteca mit dem Besucher gesprochen hatte, war bald darauf gestorben. Ein anderer, der sich an den hohen Gast erinnerte, war mein Urgroßvater Canaútli, denn er hatte mit Mixtli viele lange Gespräche geführt und ihm die Geschichte von Aztlan erzählt. Und natürlich hatte Canaútlis Enkeltochter diesen Mann nicht vergessen, denn sie, Cuicáni, war die Aztécatl gewesen, die den Besucher am herzlichsten und gastfreundlichsten willkommen hieß, ihr Lager mit ihm teilte, von ihm schwanger wurde und schließlich seinen Sohn, das heißt mich, zur Welt brachte. Sie alle und viele andere Azteca würden auch niemals vergessen, wie sich mein Onkel später mit zahlreichen Männern, die ihm halfen, den Mondstein zu rollen, auf den Weg nach Tenochtitlan machte. Die triumphale Rückkehr meines Onkels von jener Reise ist jedem in Aztlan im Gedächtnis geblieben, der sie erlebte. Auch ich war dabei, denn ich war zu dieser Zeit ein drei- oder vierjähriger Junge. Bei seiner Abreise war er nur Tliléctic-Mixtli gewesen, der Tlatocapili von Aztlan. Tlatocapili war kein besonderer Titel, er bedeutete einfach ›Stammeshäuptling‹. Sein Herrschaftsgebiet umfaßte nur ein unbedeutendes Dorf in den Sümpfen. Er selbst hatte Aztlan wiederholt als ›die Spalte im Hintern der Welt‹ bezeichnet. Doch bei seiner Rückkehr trug er einen unglaublich schönen Federkopfschmuck und einen prächtigen Federmantel. Er kam mit einem Gefolge von vielen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher