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Der Skorpion von Ipet-Isut

Der Skorpion von Ipet-Isut

Titel: Der Skorpion von Ipet-Isut
Autoren: Anke Napp
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Debora schob sich durch die Menschen am Ufer. 
    „…Der Pfeil muss von den Palastmauern abgeschossen worden sein. Wesir, schicke eine Abordnung Mejai hinüber und durch die Stadt; sie sollen jeden Verdächtigen festnehmen!“
    Einer der Offiziere erkannte Debora und bahnte ihr endlich einen Weg. Kurz darauf stand die junge Frau zitternd vor Erleichterung wieder neben ihrem Gemahl. Amenemhat zog sie an sich ohne Rücksicht auf irgendein Protokoll. Debora sah die zerbrochenen Platten des Bronzepanzers auf seiner linken Schulter, die zerfetzte Schärpe und das Blut, das ihm am Arm entlang lief. Aber er hielt sie mit festem Griff; die Verletzung schien nicht mehr als ein Kratzer zu sein. Sie merkte, wie ihr schwindlig wurde. Sie brauchte alle Kraft, sich aufrecht zu halten. Jemand hatte versucht, Amenemhat zu töten. Und wenn er sich nicht im entscheidenden Moment zu ihr umgewandt hätte…
    „Amun hat mich beschirmt, meine Geliebte“, wiederholte er leise. Seine Stimme war wie ein belebender Trank. Aber nur allmählich kehrte die Kraft in ihre Glieder zurück, während die Worte sich durch die Versammelten fort pflanzten.
    „Amun hat seinen Sohn vor dem Unheil bewahrt! Preist Amun-Ra! Preist die heilige Triade von Ipet-Isut!“

    Kemar stieß einen Fluch aus. Der Pfeil hatte das Ziel verfehlt! Gab es eine zweite Möglichkeit? Er beugte sich vor so weit es ging, versuchte, in dem Chaos und der Aufregung am Ufer etwas Genaues auszumachen. Seine rechte Hand umfasste den Schaft eines weiteren Pfeils und zog ihn aus dem Köcher. Aber näher kommende Stimmen auf dem Mauerabschnitt verrieten ihm, dass er nicht unbemerkt geblieben war. Und von der Anlegestelle aus setzten sich auch mehrere Bewaffnete in Richtung de Palastes in Bewegung. Sie konnten nur ein Ziel haben! Kemar packte seinen Bogen und sah sich um. Die Schritte kamen näher; jemand war unterwegs zu ihm, ohne Zweifel. Der Kommandant der Garde traf seine Entscheidung mit dem nächsten Wimpernschlag, bevor der erste seiner Verfolger den Wehrgang erreicht hatte. Bogen und Köcher über die Mauer schleudernd setzte er sich in Bewegung zur nächsten abwärts führenden Treppe. Bevor er sie erreichte, zischte ein Pfeil so dicht an seinem Kopf vorüber, dass es ihm das halbe rechte Ohr abriss.
    „Stehenbleiben!“ Mit einem letzten Satz waren die Verfolger – zwei nubische Gardisten und ein Mejai – hinter ihm auf dem Wehrgang.
    Kemar presste die Hand gegen sein verstümmeltes Ohr, starrte die Gegner an und versuchte, seine Würfel ein letztes Mal zu werfen: „Was soll das, Männer?! Wisst ihr nicht, wen ihr vor euch habt? Seit ihr zu berauscht, um mich zu erkennen?!“
    „Wir wissen, wer du bist!“ Der zuvorderst gehende Gardist zog sein Schwert. „Und wir wissen, was du vorhattest, Verräter!“ Er machte keinen Hehl aus seiner Abscheu.

Epilog

    Ipet-Isut erstrahlte im Festtagsschmuck. Von den hohen Flaggenmasten am Pylon flatterten rote, blaue und weiße Banner im Wind, während sich die großen Torflügel langsam öffneten. Amenemhat fühlte sich an das erste Mal erinnert, da dies für ihn geschah, vor so vielen Jahren. Er hatte diesen Augenblick verdrängt und dann vergessen, ein unwichtiges Artefakt der Vergangenheit. Aber jetzt stand er ihm so deutlich vor Augen, als sei es Gestern gewesen, dass seine Mutter ihn hier im Tempel abgeliefert hatte. Eine unerwünschte Sache, der man sich entledigt.
    Die Torflügel gaben den Blick frei in den ersten Hof und die dort versammelte Abordnung der Priester. Die Morgensonne spiegelte sich im goldenen Schmuck der Barken auf ihren Schultern. Die Götter waren gekommen, um den neuen Pharao zu begrüßen und ihn in ihren Reigen aufzunehmen… 
    Heute betrat Amenemhat den Tempel nicht als Verstoßener. Heute betrat er ihn, um die beiden Kronen zu empfangen.
    Fünf Tage waren vergangen, seit Pharao Iny-Ramses und seine Mutter Nefertari ihre hastig in den Monaten zuvor fertig gestellte ewige Heimstatt in West-Waset bezogen hatten. Am Tag nach den Begräbnisfeierlichkeiten hatte ein Sandsturm die Stätte verwüstet und jede Spur menschlicher Tätigkeit verwischt. Gerade so, als wollten die Götter selbst eine Episode aus der Geschichte Kemets tilgen. Amenemhats Hand berührte die im Torbogen eingemeißelten Hieroglyphen für Stärke und Leben.  Den Schmerz mit einer einfachen Bewegung aus seinem Herzen zu nehmen, waren die Götter nicht fähig. Oder – er lächelte kurz, sie hielten eine solche Gnade nicht für weise!
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