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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Autoren: Volker M. Heins
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Auseinandersetzungen um Rechte, Sitten und Gewohnheiten. Teilweise werden diese Konflikte durch politische oder publizistische Initiativen »von oben« angefeuert. Oft entwickeln sich multikulturelle Konflikte aber auch »von unten«, indem kleine, sinnlich mehr oder weniger auffällige Merkmale von »fremden« Bevölkerungsgruppen als Zeichen einer kollektiven Zurückgebliebenheit oder einer moralischen Bedrohung des Gemeinwesens gedeutet werden.
    Als politische Reformbewegung läuft der Multikulturalismus auf eine kulturelle Denationalisierung der Nationalstaaten hinaus, innerhalb derer er verwirklicht wird. Das bedeutet, dass bestimmte Praktiken der symbolischen Grenzziehung zwischen Menschengruppen revidiert werden. Max Weber hat den Prozess geschildert, der kleine Unterschiede in große verwandelt und dadurch ganze Nationen oder Kulturen in Gegensatz zueinander bringt. Kulturelle Differenzen können an Merkmalen festgemacht werden, die eine Polarisierung zwischen der eigenen und der Fremdgruppe befördern, wobei diese Fremdgruppe keineswegs immer nur aus Einwanderern bestehen muss. Weber spricht von »kleinen Unterschieden«, die Anlass zur »Abstoßung und Verachtung der Andersgearteten« geben können, und nennt als Beispiele solche »der Bart- und Haartracht, Kleidung, Ernährungsweise, der gewohnten Arbeitsteilung der Geschlechter und alle überhaupt ins Auge fallenden Differenzen« (Weber 1976: 236). Die jüngere Kultursoziologie hat Webers Analyse ausgeweitet auf unsichtbare oder bloß ausgedachte Differenzen (Alexander 2006). Das Programm des Multikulturalismus kann man so verstehen, dass die großen Unterschiede, die in diesen Prozessen der Abstoßung von Fremdgruppen entstehen, entdramatisiert und in kleine Unterschiede zurückverwandelt werden.
    Webers Diagnose der Übertreibung und Überdramatisierung von Differenzen und ihrer Verwandlung in Antagonismen ist auch in unserer – angeblich postnationalen und kosmopolitischen – Gesellschaft hilfreich, um die gegenwärtigen Debatten um den »Rückzug« und das »Scheitern« des Multikulturalismus in Europa besser zu verstehen (vgl. Joppke 2004; Vertovec und Wessendorf 2010; Alexander 2013). Der vielfach totgesagte Multikulturalismus ist jenes sprichwörtliche Kind, das mit dem Bad ausgeschüttet wurde – nur um danach gleich wieder zurückgekrabbelt zu kommen. Diese doppelte Bewegung der Verwerfung und Rückkehr steht im Mittelpunkt des vorliegenden Buches. Dabei konzentriere ich mich im Wesentlichen auf die Idee des Multikulturalismus und die Wandlungen dieser Idee im Laufe ihrer jungen Geschichte, die nicht zu Ende ist. Unter Multikulturalismus verstehe ich zweierlei: eine uneinheitliche, aber in ihrem Kern liberale philosophische Perspektive auf das Problem der wachsenden kulturellen Vielfalt von Individuen und Gruppen in modernen Gesellschaften, und eine politische Reformbewegung, die für eine bestimmte Form des Umgangs gesellschaftlicher Akteure und des Staates mit kulturellen Differenzen wirbt.
    Der reflexartige Einwand von Kritikern des Multikulturalismus lautet, dass kulturelle Differenzen nicht einfach »gegeben«, sondern sozial konstruiert oder zugeschrieben seien. Dieser Einwand ist aber nur aus der Beobachterperspektive zutreffend, während aus dem Blickwinkel von Subjekten kulturelle Differenzen tatsächlich gegeben und eine oft schmerzlich spürbare Realität sind, die sich in wiederkehrenden Diskriminierungs- und Fremdheitserfahrungen niederschlägt. Die vorgegaukelte Neutralität von Staaten und Sozialwissenschaften, die diese Erfahrungen leugnen und für eine »differenzblinde« Politik werben, ist nicht ein Teil der Lösung, sondern ein Teil des Problems, mit dem Minderheiten immer wieder konfrontiert sind. Interessant sind dabei nicht beliebige, sondern nur »tiefe« Differenzen. Von tiefen Differenzen spreche ich im Anschluss an Charles Taylor dann, wenn sie sich nicht der Konjunktur von Moden und Lebensstilen verdanken, sondern in handlungsleitenden Symbolen, Narrativen und »starken Wertungen« (Taylor 1996) verankert sind, die sich nicht willkürlich, etwa durch politische Entscheidungen, verändern oder neutralisieren lassen.
    Eine multikulturelle Gesellschaft erkennt man nicht an der bloßen Präsenz von Einwanderern und Minderheiten, sondern an der Existenz von differenzsensiblen Maßnahmen und Regeln. Die multikulturelle Form des Umgangs mit Vielfalt ist nicht repressiv, an starren Regeln orientiert und assimilatorisch,
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