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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Autoren: Volker M. Heins
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Konversion von Afro-Amerikanern zum Islam, die seit den 1960er Jahren zu beobachten ist und dazu geführt hat, dass diese Gruppe inzwischen schätzungsweise 40 Prozent der amerikanischen Muslime ausmacht (Ahmed 2011: 11). Kurz: Es gibt Migranten, die nicht als Fremde markiert werden, zum Beispiel bestimmte Gruppen hoch qualifizierter Fachkräfte; und es gibt Einheimische oder Langzeitansässige, die zu Fremden gemacht werden, zum Beispiel deshalb, weil sie zum Islam konvertiert sind oder weil sich neue Formen der gruppenbezogenen Feindschaft in der Gesellschaft ausbreiten.
    Die Gleichsetzung von Einwanderung und Multikulturalismus impliziert zudem, dass Deutschland und vergleichbare Länder irgendwann einmal entweder keine Einwanderungsgesellschaften oder, wenn doch, immer schon multikulturell waren. Der alte Multikulturalismus-Diskurs lässt offen, wie man zum Beispiel die massive Einwanderung insbesondere von Polen ins Ruhrgebiet einschätzen soll, die für die Industrialisierung Deutschlands von großer Bedeutung war. Oder umgekehrt: Ist die heutige indische Gesellschaft monokulturell, nur weil der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung im Promillebereich liegt und es abgesehen von einigen Bangladeschis, Afghanen und Tibetern nur wenige gibt, die nach Indien ausgewandert sind?
    Der alte Diskurs des Multikulturalismus leidet ferner an der Überschätzung der Neuigkeit der Gegenwart sowie an einer eurozentrisch verengten Sicht auf das globale Migrationsgeschehen. Der amerikanische Historiker Adam McKeown (2004) hat Zahlen zusammengetragen, die helfen, diese beiden Schwächen zu kurieren. Die Zahlen zeigen, dass die Migrationsbewegungen seit den 1990er Jahren möglicherweise nicht größer waren als dieMigrationsströme zwischen 1912 und dem Ende der 1920er Jahre, und dass es folglich keinen Grund gibt, heute von einer noch nie dagewesenen Zeitenwende oder dem Ende des Nationalstaats zu sprechen (ebd.: 183–185). Noch interessanter sind andere Zahlen. So sind von 1846 bis zum Zweiten Weltkrieg nicht nur 55 bis 58 Millionen Europäer nach Nord- und Südamerika ausgewandert. Im selben Zeitraum haben sich 48 bis 52 Millionen Inder, Chinesen und Afrikaner in Südostasien, an den Küsten des Indischen Ozeans und im Südpazifik niedergelassen, während sich beinahe ebenso viele Menschen aus dem Nordosten Asiens und aus Russland auf den Weg machten in die Mandschurei, nach Zentralasien oder Japan (ebd.: 156–160). Die »Anderen« wandern keineswegs immer nur zu »uns«, sondern in alle Richtungen. Wenn man die Prämisse akzeptiert, dass Masseneinwanderung multikulturelle Gesellschaften produziert, dann ist die gesamte moderne Welt immer schon multikulturell. Diese Schlussfolgerung spricht jedoch gegen die Plausibilität der Prämisse. Wenn die ganze Welt seit dem Beginn der Industrialisierung multikulturell ist, dann verliert der Begriff des Multikulturalismus seine polemische Qualität. Alle Katzen wären grau (oder alle Papageien gleich bunt), und der Multikulturalismus wäre keine Alternative mehr zum Nationalismus und Rassismus der modernen Welt, sondern eine bloße Begleiterscheinung dieser Phänomene.
    Die Gegenthese lautet: Wir müssen neben der Globalisierung von Migrationsbewegungen auch die globale Durchsetzung bestimmter Konzepte von Minderheitenrechten untersuchen, um zu verstehen, warum sich Einwanderer heute eher als früher weigern, die soziokulturellen Normen der Aufnahmegesellschaft umstandslos zu übernehmen. Die Tendenz zur kulturellen Pluralisierung ist nicht das Resultat einer grenzüberschreitenden Bewegung von Körpern, sondern der Beweglichkeit des menschlichen Geistes.
Multikulturalismus ohne Alternative?
    Es ist somit ratsam, Multikulturalismus von Einwanderung analytisch zu entkoppeln, auch wenn Einwanderung ein Pfad ist, auf dem Personen und Gruppen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen gezwungen werden können, über neue Formen des Zusammenlebens nachzudenken. Die Massenwanderungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben durch die erhöhte Interaktionsdichte zwischen »Fremden« zur Bildung von standardisierten Kategorien zur Bewältigung von Differenzerfahrungen angeregt. Ethnizität,Nationalität, Rasse oder Menschenrechte sind solche Kategorien. Auch die geläufige Vorstellung von räumlich abgegrenzten »Kulturen« ist ein Produkt von Austausch- und Sinngebungsprozessen. Daher scheint mir das Leitmotiv der Texte aus den frühen 1990er Jahren ganz unplausibel zu sein: Die
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