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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Autoren: Volker M. Heins
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sondern responsiv, kontextvariabel und inkludierend. Liberale Toleranz ist ein zentraler Aspekt dieser Umgangsform, wenngleich die ursprüngliche Idee des Multikulturalismus über Toleranz hinausgeht und die Herstellung von Empathie und Solidarität zwischen Bürgern mit unterschiedlichen kulturellen Herkunftsgeschichten und Orientierungen einschließt. Beispiele für multikulturalistische politische Reformen sind zum einen Maßnahmen wie die Zulassung von doppelten Staatsangehörigkeiten, bestimmte Ausnahmen von Vorschriften und Gesetzen, um die Entfaltung religiöser Lebensformen zu ermöglichen oder auch Gesetze, die selbst Sonderregelungen wie etwa die Steuerbefreiung von bestimmten Institutionen vorsehen; zum anderen umfasst der Multikulturalismus gezielte Antidiskriminierungsmaßnahmen, eine andere Rekrutierungspraxis der öffentlich-rechtlichen Medien, eine Entprivilegierung des Christentums im Schulsystem, die Einführung neuer Feiertage wie Id al-Fitr (Ende des Fastenmonats Ramadan) oder Jom Kippur (das jüdische Versöhnungsfest) sowie eine bessere Förderung von Mehrsprachigkeit, die auch die tatsächlich in der Gesellschaft gesprochenen Sprachen – in Deutschland vor allem Türkisch – berücksichtigt (vgl. Brumlik 1998: 951f.; Kymlicka 2012: 7).
    Multikulturelle Gesellschaften öffnen darüber hinaus ihren Mitgliedern die Augen für nicht durch Einwanderung importierte sowie für nichtethnische Differenzen und Gruppenbildungen. Nicht alle Muslime sind Einwanderer, und viele Einwanderer aus islamisch geprägten Gesellschaften sind keine Muslime. Eine für erlittene oder selbstgewählte Differenzen sensible Gesellschaft wird auch dafür sorgen, um ein Beispiel zu nennen, dass Nachrichtensendungen im Fernsehen durch Gebärdendolmetscher begleitet werden, anstatt (wie jüngst der Sender Phoenix) Gehörlose und Hörgeschädigte als vermeintlich »Taubstumme« aus der Kommunikationsgemeinschaft auszuschließen.
    Der Dauerstreit um den richtigen Modus der Inkorporierung von Zuwanderern und ihren Nachkommen findet vor dem Hintergrund einer wachsenden ethnischen und religiösen Heterogenität der Bevölkerung sowie der Zunahme ethnischer Minderheiten statt. In der Debatte um den Multikulturalismus und sein vermeintliches »Scheitern« geht es viel um wirtschaftliche, demografische und im engen Sinne politische Sachverhalte. Mir kommt es dabei darauf an, die mit starken kollektiven Emotionen versehenen Bedeutungen nachzuvollziehen, die diesen Sachverhalten zugeschrieben werden. Was wir beobachten, sind Prozesse, in denen reale oder imaginierte Merkmale von Personen und Gruppen zum Anlass genommen werden, nicht nur Grenzen zwischen großen Kollektiven, sondern auch eine Schwelle zu markieren, jenseits derer eine Zone des Bedrohlichen und Suspekten beginnt. Diese Markierungen sind nicht ein für alle Mal festgeschrieben. So hat sich seit den 1960er und 1970er Jahren in den westlichen Staaten eine allmähliche Abkehr von der Politik der Assimilation vollzogen, das heißt von einer Politik, deren Ziel es war, durch staatliche Erziehung und Reglementierung möglichst vollständig die primordialen Sitten und Gewohnheiten von Neuankömmlingen durch die dominanten kulturellen Muster der Aufnahmegesellschaft zu ersetzen. Diese Abkehr wird heute auch in verschiedenen Erklärungen der deutschen Bundesregierung betont, die immer wieder die Wechselseitigkeit des Integrationsprozesses unterstreicht und ausdrücklich »Respekt vor kultureller Vielfalt« fordert (vgl. Löffler 2011: 247–249).
    Die multikulturelle Öffnung weist allerdings große nationale Unterschiede auf und ist immer wieder von Rückschlägen betroffen. Daher muss die Abkehr von der Politik der Assimilation keineswegs eindeutig oder endgültig sein. 3 Dort, wo die Abkehr von der Assimilation aus Gründen, auf die ich später eingehen werde, unternommen worden ist, sind in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedliche Konzepte einer Politik des Multikulturalismus vorgeschlagen und ausprobiert worden. Der Ausdruck »Multikulturalismus« war dabei zunächst nicht mehr als ein rhetorischer Platzhalter für eine neue, erst noch zu schaffende Form des Managements von kulturellen Differenzen. Das wird deutlich, wenn man auf die älteren Texte zurückgreift, die das Vokabular des Multikulturalismus in Deutschland populär gemacht haben. Den Anfang machte Claus Leggewies Streitschrift MultiKulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik (2011a) aus dem Jahr 1990
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