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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Autoren: Volker M. Heins
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Leugnung der Tatsache, dass wir in einer multikulturellen Gesellschaft leben, sei irrational, weil es zu dieser »keine Alternative« (Cohn-Bendit und Schmid 1993: 12) gebe.
    Richtig daran ist sicher der Aufruf, sich stärker auf die empirische soziale Realität der Gesellschaft zu beziehen und deren reale Heterogenität wahrzunehmen. Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sondern bereits wirklich: Wir müssen nur genau hinsehen. Richtig ist auch, dass die frühzeitige offizielle Anerkennung der Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, von großer Bedeutung für die Mentalität der Republik gewesen wäre. Falsch ist allerdings die Behauptung, die in den frühen Texten zum Multikulturalismus ebenfalls mitschwingt, dass die Form einer genuin liberalen, minderheitenfreundlichen, auf Ausgleich und Kompromissbildung zielenden Politik alternativlos sei. Es gibt, so schrieb damals auch Jürgen Habermas, »keine Alternative« zur wachsenden kulturellen Heterogenität der Gesellschaft, »es sei denn um den normativ unerträglichen Preis ethnischer Säuberungen« (Habermas 1996a: 142). Diese Formulierung verstellt jedoch den Blick auf das eigentliche Problem, dass es sehr wohl alternative Modelle des Umgangs mit kultureller, ethnischer und religiöser Vielfalt gibt. Anstatt das Problem in den Begriffen eines Spektrums von politischen Optionen zu formulieren, haben sowohl Multikulturalisten als auch deren Gegner auf ihre jeweils eigene Realitätstüchtigkeit gepocht und der Gegenseite Tatsachenblindheit und Naivität vorgeworfen. Dabei wäre beiden zuzugestehen, dass sie umstrittene Modelle des Umgangs mit kultureller Vielfalt propagieren, die jeweils auf eigenen Realitätsdeutungen und Bildern der guten Gesellschaft beruhen. Mit Emile Durkheim behaupte ich, dass wir die Gesellschaft im Licht von Klassifikationen beschreiben, die eine mehrdeutige Wirklichkeit vereindeutigen, ohne dass eine bestimmte Klassifikation der Realität ontologisch näher käme als eine andere.
    So ist es durchaus möglich, in einem Milieu kultureller Vielfalt für die Eindämmung bestimmter Praktiken oder die Abdrängung bestimmter Sitten und Gewohnheiten in die Privatsphäre einzutreten. Man kann Einbürgerungstests einführen, die Bewerber nur dann bestehen, wenn sie liberaler sind als der Durchschnitt der Bevölkerung des Landes, dem sie angehören wollen. Man kann das Tragen von Kopftüchern bei Beamtinnen und Angestelltenim öffentlichen Dienst verbieten und danach – etwa unter Berufung auf das »Kopftuchurteil« des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gegen Leyla Şahin vom Juni 2004 – noch ausweiten auf Schülerinnen und Studentinnen. Man kann den Bau von Moscheen erschweren und zum Beispiel Minarette verbieten. Man kann die rituelle Beschneidung von muslimischen und jüdischen Jungen einschränken oder verbieten. Schließlich kann man sich, wie in Deutschland geschehen, Verfassungsschutzbehörden leisten, die rassistische Tätergruppen ignorieren und deren Enttarnung erschweren. Natürlich hängt die Frage, ob all diese realen Vorkommnisse und Meinungstrends eine praktikable Alternative zum Multikulturalismus ergeben, von den sozialen Kräfteverhältnissen ab, deren Dynamik sich schwer vorhersehen lässt. In der Vergangenheit ging ein bestimmter Marxismus fälschlicherweise davon aus, dass das Wachstum der Arbeiterklasse irgendwann zwangsläufig zum Sozialismus führen müsse. Genauso fragwürdig scheint mir die Annahme zu sein, dass die bloße Präsenz und das Wachstum ethnischer und religiöser Minderheiten irgendwann zwangsläufig zur Verwirklichung des Ideals einer multikulturellen Gesellschaft führen werden.
Der Zweck des Multikulturalismus
    Die krypto-marxistische Denkfigur einer naturwüchsigen Tendenz zum Multikulturalismus, die nur noch ins Bewusstsein dringen und anerkannt werden muss, hat nicht zuletzt den Preis, dass man sich nicht mehr für die Frage interessiert hat, was eine multikulturelle Gesellschaft eigentlich normativ auszeichnet und warum es sich lohnt, für sie zu kämpfen. Vielfalt ist nicht per se und auf allen Gebieten ein erstrebenswertes Gut. Es lassen sich zum Beispiel gute Gründe für sogenannte »Ortsbildsatzungen« finden, die in historischen Kulturlandschaften oder alten Städten architektonische und ästhetische Vielfalt zugunsten einer gewissen optischen Einheitlichkeit neuer Bauvorhaben unterdrücken. Wir ahnen, dass es sich mit der kulturellen Pluralität unserer
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