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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Autoren: Volker M. Heins
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Hintergrund aus, vor dem sie ihre Freiheit tatsächlich leben können. Auch der einflussreiche Philosoph Charles Taylor betont, dass die Vielfalt von Kulturen die Vielfalt von individuellen Orientierungen nicht unterdrückt, sondern eher hervorbringt. Gerade für Taylor steht fest, »daß das gute Leben für dich nicht dasselbe ist wie das gute Leben für mich« (Taylor 1996: 654).
    Das normative Ideal des Multikulturalismus, wie ich es verstehe, besteht folglich nicht in einer Gesellschaft des Dauerkonflikts zwischen verschanzten kulturellen Gruppen, sondern in der Ermöglichung von sozialen Beziehungen zwischen Einzelnen und Gruppen, die nicht mehr durch das Dazwischentreten von Abstraktionen wie Nation, Rasse oder Kultur verzerrt und gefährdet werden. »Leben und leben lassen« statt »Wehe, du respektierst meine Gruppe nicht!« Etwas davon klingt bereits in der Literatur des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts an, etwa bei Arthur Schnitzler, der aus einer assimilierten Wiener Ärztefamilie stammte und die Zuschreibung »jüdischer Autor« ablehnte, was ihn keineswegs vor dem wachsenden Antisemitismus vieler seiner Zeitgenossen schützte. In seinem 1908 erschienenen Roman Der Weg ins Freie lässt er einen seiner Protagonisten spüren und ausdrücken, dass etwas nicht stimmt mit dem Leben in einem zunehmend fremdenfeindlich geprägten Nationalstaat. Er fühlt sich,
    »als wäre auch er sein Leben lang von einer gewissen leichtfertigen und durch persönliche Erfahrung gar nicht gerechtfertigten Feindseligkeit gegen die ›Fremden‹ […] nicht frei gewesen und hätte so sein Teil zu dem Mißtrauen und dem Trotz beigetragen, mit dem so manche sich vor ihm verschlossen, denen entgegenzukommen er selbst Anlaß und Neigung fühlen mochte. Dieser Gedanke erregte in ihm ein wachsendes Unbehagen, das er sich nicht recht deuten konnte, und das nichts andres war als die dumpfe Einsicht, daß reine Beziehungen auch zwischen einzelnen und reinen Menschen in einer Atmosphäre von Torheit, Unrecht und Unaufrichtigkeit nicht gedeihen können.« (Schnitzler 2007: 117)
    Das entscheidende Stichwort lautet hier: »reine Beziehungen«. Schnitzler nimmt damit das Herzstück einer politischen Theorie vorweg, die auf die Herstellung einer Gesellschaft von Freien und Gleichen zielt, denen nichts daran liegt, einander überhaupt zu klassifizieren. Das, was Schnitzler seine »dumpfe Einsicht« in den Wert solcher Beziehungen nennt, bildet den Ausgangspunkt eines Denkens, das darauf angelegt ist, den gesellschaftlichen Austausch ohne pauschale Kollektivzuschreibungen zu regeln.
Die Struktur des Buches
    Damit komme ich zu den beiden zentralen Anliegen des Buches. Erstens zeichne ich die Bahn nach, die die Schnecke namens Fortschritt auf dem Gebiet der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Reflexion über kulturelle Vielfalt in den letzten Jahrzehnten zurückgelegt hat, und liefere einen Überblick über die gesamte Debatte. Zweitens kommt es mir darauf an, dem Unbehagen am Multikulturalismus, das sowohl die politische Theorie als auch die breite Öffentlichkeit nicht nur in Deutschland bestimmt, eine deutlichere Gestalt zu geben, um es besser diskutieren und damit in etwas Neues verwandeln zu können. Meine These lautet, dass die empirischen Details, um die es vordergründig im Streit um den Multikulturalismus geht – religiöse Symbole, Sprachkompetenz von Migranten, Import internationaler Konflikte, Arbeitsmarkt- und Bildungserfolge –, grundlegende Fragen von Identität, Differenz und Solidarität berühren, die nicht nur in der überlieferten Kultur des europäischen Nationalstaats ungelöst geblieben sind, sondern auch im vereinigten Europa weiterbestehen. Fragen der Konstruktion von Differenz und Solidarität stehen im Zentrum der ursprünglichen Theorieansätze, die die Politik des Multikulturalismus inspiriert und in einigen Ländern zu beachtlichen Innovationen geführt haben. Besonders in Deutschland und Österreich dominieren dagegen Missverständnisse darüber, worum es bei der Idee des Multikulturalismus eigentlich geht. In einer Zeit, in der selbst linksliberale Kritiker unter Multikulturalismus nur noch eine Philosophie verstehen, die alle Menschen auf »ihre Herkunft reduziert« und sich das soziale Leben als ein »unverbindlich-tolerantes Nebeneinander« der Kulturen vorstellt, so etwa Mark Terkessides (2010) im Klappentext seines Buches Interkultur , erscheint es mir sinnvoll, zu den Quellen zurückzugehen
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